Kein Bohemestress am Superspar

BUCH Mit der Künstlerin und Musikerin Sarah Marrs durch Berlin und den Osten ziehen: „Stadtnomadin“ führt den Leser nach Bitterfeld, am Hackeschen Markt entlang und in ihre einstigen Lieblingslocations

Hau mal ab aus deinem fucking Berlin, aus deinem fucking Kiez!

VON ULF SCHLETH

Sarah Marrs hat zeit ihres Lebens ein enges, unverblümtes und humorvolles Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt. Zu jener Frau, die in London und Paris als Model arbeitete und sich später als Covergirl für Harper’s Bazaar und Vogue einen Namen mit ihrem „Audrey-Hepburn-Look“ machte. Als Mädchen musste sie gleichzeitig Sohn und Tochter sein und obwohl sie selbst sagt, dass sie nie Model sein könnte, merkt man, dass die Attitüde ihrer Mutter Spuren hinterlassen hat. Sie zog 1989 mit 24 Jahren kurz vor der Maueröffnung von Chicago nach Berlin und fand schnell Kontakt zur Ostberliner Kunstszene. Ihre privilegierten Verhältnisse und ihr Kunstdiplom ließ sie in der Heimat zurück, es kam aber nie zur kompletten Abnabelung.

Sarah Marrs erzählt in ihrer Geschichtensammlung „Stadtnomadin – Wilde Tage in Chicago, lange Nächte in Berlin“ von Familie, Liebe und ihrer Arbeit als Künstlerin und Musikerin. In Berlin kennt man Marrs etwa durch ihre Zusammenarbeit mit den Bands „Kyborg“, „Ornament und Verbrechen“ und „Tarwater“.

Um ihre Mutter bei der Erziehung ihrer beiden Nichten zu entlasten, pendelte sie bald zwischen Berlin und Chicago hin und her. Sie beschreibt auf liebevolle Art und Weise die Erlebnisse mit ihrer Familie, ihrer manchmal etwas schrulligen Mutter und deren Männern. Sie wechselt häufig zwischen Berlin und Chicago hin und her, sodass der Leser manchmal nicht mehr genau weiß, wo er sich gerade befindet, was dem Leben zwischen den Metropolen eine entspannende Normalität verleiht.

Eindrücklich beschreibt sie auch die dröge Konferenz „Kunst. Was soll das?“ 1992 im ebenso drögen Bitterfeld. Mit ihrer Band „Novemberklub“, deren Mitglieder Bernd Jestram, Ronald Lippok, Mario Mentrup, Bert Papenfuß und Brad Hwang die Kunstszene noch heute beeinflussen, lockerte sie die Podiumsdiskussionen der Kunstprominenz auf. Sie schreibt über ihre Gewissensbisse beim Taubentöten, gräbt Erinnerungen an längst geschlossene Lieblingslocations aus, erzählt, warum sie mal für eine Mafiosibraut gehalten wurde, und gibt unverblümt ihre Affinität zum Fernsehen, Soap Operas und Reality-Shows zu.

Sie widmet dem sozialen Mikrokosmos des legendären „Superspar“ am Hackeschen Markt ein ganzes Kapitel. Dieser Supermarkt, der heute zwar Edeka heißt, aber immer noch die Grundversorgung der hindurchströmenden Massen reicher Touristen und armer Künstler sicherstellt, war nicht nur für Sarah Marrs ein Ruhepol im Bohemestress.

Eine besondere Stellung im Buch nimmt ihr ehemaliger Chef Erwin „Gruen“ Grünberg ein. Gruen war ein Jude, der vor den Nazis floh, dann in Chicago lebte und mit ihrer Mutter eine Beziehung hatte, ehe er ein väterlicher Freund der Tochter wurde.

„Stadtnomadin“ ist nicht nur deshalb mehr als ein Hauptstadtroman. Auf herzerwärmende und humorvolle Art und Weise betreibt Marrs Kulturarchäologie, beschreibt die Konsolidierung der Künstlerin als junger Frau, zeigt, wie wichtig Hartnäckigkeit ist, und veranschaulicht Unterschiede zwischen den Kulturen, in denen sie sich bewegt hat: der beiden deutschen und der amerikanischen.

Zudem beschäftigt sich Marrs immer wieder mit ihrer Abneigung gegenüber Voreingenommenheit und Schubladendenken. Dadurch, dass sie wegen ihrer Statur, ihrer dunklen Haare, ihrer lauten und tiefen Stimme von ihrer Umwelt immer wieder in eine eher maskuline Rolle gedrängt wird, werden auch die Sexismen des Alltags gekonnt thematisiert.

Nicht zuletzt seziert Sarah Marrs auch den deutschen Nationalchauvinismus – was sich dann in etwa so anhört: „Bist du bescheuert? Die Amis haben keine Kultur? Was, verdammt noch mal, weißt du überhaupt? Hast du zu viel ferngesehen? Hau mal ab aus deinem fucking Berlin, aus deinem fucking Osten, aus deinem fucking Kiez! Hau ab für verdammte zwei Jahre aus deinem fucking Leben, scheißegal wohin, und dann sag mir dasselbe noch mal ins Gesicht!“

■ Sarah Marrs: „Stadtnomadin. Wilde Tage in Chicago, lange Nächte in Berlin“. Eden Books, 201 S., 14,95 Euro

■ Lesung: 24. 10., 21 Uhr, Rumbalotte Continua, Metzer Str. 9, Prenzlauer Berg