Nicht mehr an einem Tisch

NS-GESCHICHTE Ein traumatischer Bruch mit dem vorherigen Leben: Patricia Pientka legt umfassende Studie zur Geschichte des Zwangslagers für Sinti und Roma in Marzahn vor

Die Errichtung des Zwangslagers stand im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin

VON BARBARA DANCKWORTT

Die Aktion verlief „schlagartig“, wie es im Jargon der Nationalsozialisten hieß. Am 16. Juli 1936 wurden in einer Polizeirazzia über 600 Sinti und Roma in Berlin verhaftet und zwangsweise auf das hinter dem Friedhof Marzahn entlang des Bahndamms gelegene Rastplatzgelände umgesetzt. Nicht nur Sinti und Roma, deren Wohnwagen im Stadtgebiet auf Privatgelände standen, sondern auch in Mietwohnungen lebende Familien wurden festgenommen.

Nach Schätzungen des Schriftstellers und DDR-Bürgerrechtlers Reimar Gilsenbach, der Mitte der Achtziger Jahre als einer der Ersten dieses „vergessene Kapitel der Naziverbrechen“ publik machte, waren im Marzahner Zwangslager an die 1.200 Personen inhaftiert. Die kommunalen „Zigeunerlager“ wurden seit 1935 in zahlreichen Großstädten, darunter Magdeburg und Köln, eingerichtet. Sie dienten der Segregation, der Konzentration, der rassenbiologischen Forschung, der Zwangsarbeit und als Sammellager.

Dank Patricia Pientka, selbst Angehörige der Minderheit der Sinti, liegen jetzt exaktere Zahlen vor: Sie ermittelte 340 Personen des Zwangslagers namentlich, davon 200 Personen als Häftlinge des KZs Auschwitz-Birkenau, 55 Insassen blieben in Marzahn zurück. Da die Akten nicht vollständig erhalten sind, wird die Zahl der Verfolgten und Deportierten jedoch höher liegen.

Patricia Pientkas lesenswertes Buch „Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn“ ist vor Kurzem erschienen. Es basiert auf ihrer Magisterarbeit an der Humboldt-Universität Berlin. Detailliert geht die Autorin auf die Lebensumstände der Internierten ein, vor allem der Jugendlichen und Kinder. Für diese war die Einweisung in das Zwangslager ein traumatischer Bruch mit ihrem vorherigen Leben: Herausgerissen aus der Wohnung, den Schul- und Lehrstellen sowie der Betreuung durch die Familie – die Eltern wurden oft zuvor deportiert –, mussten die Jugendlichen unter erbärmlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Der damals 13 Jahre alte Otto Rosenberg, der später Vorsitzender des Landesverbands der Deutschen Sinti und Roma Berlin-Brandenburg wurde, berichtet etwa, wie er besonders darunter litt, mit den Arbeitskollegen nicht mehr an einem Tisch essen zu dürfen. Eines Tages zeigte sein Arbeitgeber ihn an, woraufhin er nach Auschwitz deportiert wurde.

Fehlende Fördermittel

Warum hat die Forschung bis zur Veröffentlichung von Pientkas Buch dieses Thema – immerhin befand sich in Marzahn eines der größten Zwangslager für Sinti und Roma – so stiefmütterlich behandelt? Zwar waren bereits einige Aufsätze zur Geschichte des Lagers erschienen. Die Recherche der Deportationen ins KZ Auschwitz-Birkenau konnte jedoch noch nicht vorgenommen werden, da die erhaltenen Hauptbücher des „Zigeunerlagers“ erst 1993 von der Gedenkstätte Auschwitz in Zusammenarbeit mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum der Deutschen Sinti und Roma veröffentlicht wurden. Es interessierten sich in der Folgezeit zwar Wissenschaftler für eine weitere Aufarbeitung, doch die deutschen Stiftungen waren nicht am Thema interessiert, Fördermittel wurden nicht bewilligt.

Auch nach der Berliner Verhaftungsaktion wurden Sinti und Roma ins Marzahner Lager eingewiesen. Seine Errichtung stand zwar im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, die Planung der Behörden reicht jedoch zwei Jahre zurück. Die Eingewiesenen, die zuvor in Mietwohnungen gelebt hatten, mussten auf dem Platz ohne Obdach mehr vegetieren als leben. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Die nahe gelegenen Rieselfelder verbreiteten einen unerträglichen Gestank, die Nähe zu Fäkalien widersprach zudem den Tabugesetzen der Sinti und Roma. Während die meisten Zwangsarbeit in Berliner Firmen leisten mussten, dienten andere der Filmregisseurin Leni Riefenstahl als Komparsen.

Im Juni 1938 wurden Insassen im Zuge der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ ins KZ Sachsenhausen eingewiesen, ab Frühjahr 1939 ins KZ Ravensbrück. Es bestanden Pläne, das Zwangslager auszubauen. Mit Kriegsbeginn änderte sich allerdings die Richtlinie: Adolf Eichmann ordnete im Herbst 1939 an, einen Teil der Berliner Sinti und Roma zusammen mit den Wiener Juden nach Nisko zu deportieren. Die Umsetzung dieser Deportationspläne wurde jedoch zurückgestellt.

Sieben Überlebende

1943 kam es zu einer erneuten Radikalisierung: Auf der Grundlage des Befehls von Heinrich Himmler vom 16. Dezember 1942 wurden rund 23.000 Sinti und Roma, die mehrheitlich aus Deutschland und Österreich stammten, ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Innerhalb kürzester Zeit starben die meisten. Nur sieben Überlebende der aus dem Lager Marzahn Deportierten sind bekannt. Luftangriffe zerstörten 1944 das Lager. Die in Marzahn Zurückgebliebenen fristeten ihr Dasein unter menschenunwürdigen Verhältnissen, bis die sowjetischen Armee sie Ende April 1945 befreite.

Während die Täter nach dem Krieg führende Posten einnahmen und als Gutachter in „Wiedergutmachungsverfahren“ gegen die Opfer auftraten, wurde den ehemaligen Lagerinsassen lange eine Entschädigung verwehrt. Offen ist die Frage, ob alle in Berlin wohnenden Sinti und Roma in das Zwangslager deportiert wurden. Hier stehen noch Forschungen in den Berliner Stadtbezirken aus.

■  Patricia Pientka, „Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Verfolgung und Deportation“. Metropol Verlag, 19 Euro