„Am Ende bleiben nur Inseln übrig“

SPURENSUCHE In ihrem neuen Film „Meine Mutter, ein Krieg und ich“ sucht Tamara Trampe nach der Geschichte ihrer Mutter – mit allen Schwierigkeiten des Erinnerns

■ geboren 1942 in Woronesch in der Sowjetunion, kam 1949 aus der Ukraine nach Deutschland. Die freiberufliche Filmemacherin, Autorin und Dramaturgin studierte Germanistik an der Universität Rostock. Sie war bei der ganztägigen Fernsehdokumentation „24h Berlin – Ein Tag im Leben“ (2009) beteiligt, ihr Film „Wiegenlieder“ (2010) war wie „Meine Mutter, ein Krieg und ich“ im Panorama-Programm der Berlinale zu sehen.

INTERVIEW MATTHIAS DELL

Handelte ihr letzter Film „Wiegenlieder“ auf sehr zauberhafte Weise von so etwas Abstraktem wie Geborgenheit, wird die Berliner Dokumentarfilmerin Tamara Trampe in „Meine Mutter, ein Krieg und ich“ konkreter: Sie reist, getrieben vom Unwillen der Mutter, über den Vater, einen russischen Offizier an der Front des Zweiten Weltkriegs, zu sprechen, an die Orte ihrer Kindheit: das Feld an der Wolga an der Front, auf dem sie im Winter 1942 geboren wurde, und in die Ukraine, Heimat ihrer Mutter. Aus der Spurensuche wird ein lakonisches und berührendes Puzzlespiel mit der Erinnerung, die bei dem Onkel und den drei Frauen, die Trampe aufsucht, weil sie wie die Mutter Krankenschwestern an der Front waren, durchaus Schweigen produziert. Das Interview findet in Trampes Küche statt, an einem sonnigen Nachmittag. Zu den aktuellen Vorgängen im Osten der Ukraine will Trampe sich nicht äußern. Der Film tut es schon, insofern er die Menschen würdigt, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs nur mehr für Paraden rausgeholt wurden, ansonsten aber in den Kalkülen der Macht zwischen Politik und Oligarchie keine Rolle spielen.

taz: Frau Trampe, „Meine Mutter, ein Krieg und ich“ vermittelt den Eindruck, dass Sie etwas klären mussten: die Geschichte Ihrer Geburt, das Verhältnis zu Ihrer Mutter. Im Interview im Berliner Altersheim am Anfang des Films weicht sie Ihren Fragen eher aus.

Tamara Trampe: Das haben wir bei meinem Film „Wiegenlieder“ gedreht, 2007, kurz nach dem Dreh ist sie gestorben. In den Film passte das Material damals nicht rein, die Ästhetik war eine andere, das hätte keinen Raum gehabt.

Nun haben Sie den Film dazu gemacht.

Eigentlich war es so, dass ich mir meine Mutter als 22-Jährige nicht vorstellen konnte. Die Entfernung, die Fahrt in den Osten der Ukraine, hat das möglich gemacht. Sonst war sie immer meine Mutter, die ich mein Leben lang mit ihren Herzanfällen betreut habe. Sie war eine Autorität, eine erwachsene Frau. Durch die Reise habe ich mich dem Mädchen genähert. Und vieles besser verstanden.

Es scheint trotzdem nicht einfach gewesen sein, in die Geschichte reinzukommen. Die Geschichte Ihrer Mutter, einer Frau, die im Zweiten Weltkrieg an der Front gegen die Deutschen gekämpft und Sie auf einem Feld geboren hat. Im Film stehen Sie dauernd vor Türen, Toren, bei Ihrem Onkel und den drei Veteraninnen, und kriegen die nicht auf.

Was sich für die Ästhetik des Films als genial erwiesen hat. Das war nicht geplant, genauso wie das Wischen über die Objektive der Kamera, die Scheiben. Wir haben gesagt: Wir wissen nicht, wofür wir sie brauchen, aber lasst uns Arbeitssachen, Drehprozesse immer mitdrehen. Und in der Montage stellte sich raus, dass wir dieses Sich-wieder-annähern-Müssen, dieses „Wohin fahren wir als Nächstes?“ so ohne Kommentar erzählen konnten.

Ein Dokumentarfilm entsteht beim Schnitt. Wie ist der bei Ihnen organisiert?

Ich übersetze, was da ist, und wir gucken uns zusammen einmal das Material an. Dann zieh ich mich zurück. Stephan Krumbiegel, der Cutter, und Johann Feindt, der die Kamera gemacht hat, beginnen mit dem Schnitt. Zu dritt wäre das Quatsch, da ist immer einer zu viel, der redet. Ich komme dann später wieder dazu als der Meckerer vom Dienst. Das hat sich bei den vielen Filmen, die wir zu dritt gemacht haben, als ergiebig erwiesen.

Was einen Ihnen gemäße Form des Erzählens ist: diese Anekdoten, Erinnerungssprengsel, Traumfetzen, die im Film auftauchen.

Das Irre war, dass ich am Anfang gesagt hatte: und dann schreibe ich so kleine Texte dazu. Stephan aber meinte, Texte kommen überhaupt nicht in Frage. Bei der Hälfte des Schnitts, die beiden sitzen da, kommt ein Anruf: Tamara, kannst du mal zu der Situation einen kleinen Text schreiben? So ist das entstanden. Ich wusste, dass ich das brauche, weil der Bogen von meiner Mutter über eigenes Erleben hin zu den Frauen anders gar nicht ging. Das, was ich mit dieser Frauengeneration als Kind erlebt habe, ist mein Türöffner zu ihnen. Dafür brauchte es diese Texte.

Der Sinn von Literatur, Film, Kunst: Sie bringen eine persönliche Erfahrung in eine Form, in der sie mit einem Mal allgemeiner wird, für andere lesbar.

Wir haben wie in „Wiegenlieder“ versucht, diesen Film mit Lücken zu bauen, in denen man als Zuschauerin eigenes einbringen, nachdenken, nach Bildern suchen kann.

Was wären das für Lücken?

Dass, wer den Film sieht, sich fragt: Was wissen wir über unsere Frauen im Krieg? Hab ich da schon mal was gesehen? Was hat meine Oma überhaupt erzählt? Dass eine Generation mit ihrem eigenen Erleben eine Spurensuche beginnt.

Klappt das?

Ein Filmgespräch ist mir in Erinnerung geblieben. Nach den „Wiegenliedern“ bei den Häppchen, unter lauter Professoren, sah ich hinten eine Frau mit einer verwurschtelten Dauerwelle und in einem gesteppten, hellblauen Anorakmantel, dem man ansah, dass er nicht teuer gewesen war. Sie traute sich nicht durch die Professoren, also bin zu ihr hin. Und sie sagt: „Ich wollte ihnen nur sagen, ich hab den Film gar nicht gesehen.“ Ach, frage ich, sind Sie zu spät gekommen? „Nein, nein“, sagt sie, „ich habe die ganze Zeit nach einem Lied gesucht in meinem Kopf. Als Kind war ich im Heim, dann bin ich eine Pflegefamilie gekommen und da gab’s eine Oma, die hat mir ein Schlaflied gesungen. Das habe ich gesucht.“ Und, frage ich, haben Sie’s gefunden? „Ja“, sagt sie. Und dann hat sie sich hingestellt und hat’s gesungen für mich. Mehr kannst du doch nicht erreichen.

Ihre Gesprächspartnerinnen im Film, die drei Veteraninnen, die als Krankenschwestern an der Front waren wie Ihre Mutter, die suchen auch die ganze Zeit nach dem, wovon sie erzählen sollen.

Ich habe mir vorher nicht bewusst gemacht, dass alle so löchrig sind. Das war eine schöne Überraschung. Über meinem Schreibtisch hing damals der Satz von Gabriel Garcia Márquez: „Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern, und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“ Das wollte ich. Sagen, dass Erinnerung nicht etwas ist, worauf wir uns verlassen können. Dass am Ende nur Inseln übrig bleiben. Das fängt schon mit dieser Geste bei Galina Nikolaevna an: Wo bin ich denn eigentlich verwundet worden? Erst zeigt sie auf die linke Schulter, dann auf die rechte, aber hier ist die Kugel rausgekommen. Mir ging’s nie um Vollständigkeit. Ich war auf die Körperlichkeit aus, die Physis. Ich wollte denen noch mal ins Gesicht sehen – viel mehr, als wer weiß wie viel zu erfahren.

Galina Nikolaevna berührt einen am meisten: Sie kann fast nichts sagen, aber man spürt, wie aufgewühlt sie ist. Am Ende läuft sie Ihnen bis zum Auto hinterher, um sich zu verabschieden– weil sie weiß, dass es das letzte Mal ist, dass jemand kommt in diesen Ort mit den buckligen Straßen und sie fragt, sie versteht, sie kennt.

Als ich 1995 mit Hannes Schönemann den Film über Stefan Heym gemacht habe, da hat der uns gesagt: Wenn man aus dem Krieg zurückkam, dann hat man wie durch eine Glasscheibe auf die anderen gesehen, und ich habe mich mein Leben lang bemüht, dass sie die Glasscheibe nicht bemerken. Das Gleiche hat mir ein russischer Offizier erzählt, als wir „Weiße Raben – Alptraum Tschetschenien“ drehten: Es gibt eine Trennwand. Die Erfahrung des Krieges, die Angst, die vielen Schrecken, das kann man schwer beschreiben.

■ „Meine Mutter, ein Krieg und ich“ (Regie: Tamara Trampe, Johann Feindt) läuft im Brotfabrik-Kino und ab 24. April auch im Kino Krokodil