WER GEHÄNSELT WIRD, GEHÖRT NICHT WIRKLICH DAZU UND SIEHT DAFÜR MANCHMAL MEHR ALS ANDERE
: Franz schreibt Briefe an Onkel Karl

VON JÖRG SUNDERMEIER

Gerd Schönfeld ist ein Friedhofsmusiker im Rentenalter. Im Wedding geboren und im Prenzlauer Berg aufgewachsen, hat er sich durchgeschlagen – er arbeitete in der Champignonzucht, er war Hilfsschlosser, Grabpfleger, Musiker am Theater Anklam und arbeitete als Requisiteur am Deutschen Theater Berlin.

Aber von all dem handelt sein wunderbares Buch „Schackelstern“ nicht. Da geht es nicht um einen Mann, der sich nicht gängeln lässt, sondern um einen Jungen, der gegängelt wird. Der kleine Franz wächst Ende der fünfziger Jahre bei seiner Tante Herta und ihrem Lebensgefährten Roland auf, letzterer ist Künstler. Franz schreibt Briefe an seinen Onkel Karl, den er verehrt und dem er sich anvertraut.

So beschriebt der Pubertierende, wie er die Schule schwänzt, mit eher arbeitsunwilligen Elementen an der U-Bahn sitzt und ab und an einen Schluck aus der Schnapspulle abbekommt. Er erzählt etwa, wie ein Kriegsversehrter sein Leben wiedergibt: „Der Mann ohne Beine nahm einen Schluck aus seiner Taschenflasche: ‚Als ick nach Hause kam, stand meine Valobte vor mir und sagte keen Wort. Die kiekte mir nich eenmal ins Jesicht. Stierte und stierte. Nur dahin, wo sonst meine Beene wärn. Luise, sage ick. Ick wollt ma schon entschuldijen. Und denn is se wegjerannt. ‚Ne Woche später kam Post. Für ‚ne Ehe, schrieb se, hätte se noch nich die nötige Reife.‘“ Franz gibt diese Szenen wieder, scheinbar unstrukturiert, erst peu à peu ergibt sich daraus eine Geschichte, erst dann kann man Herta und Roland und Hertas Freundin und deren Sohn als Charaktere erkennen.

Man erfährt sehr viel über das Berlin vor dem Mauerbau, etwa, wenn der Junge kurz die Oma im Westteil der Stadt besucht. Oder dort den bei der Polizei arbeitenden Onkel aufsucht, da er nach dem Tod Wilhelm Piecks aus der Schulstunde geflogen ist, weil er dem verstorbenen Präsidenten der DDR zu wenig Respekt erwiesen hat: „Onkel Walter hatte Dienst. Sein grüner Käfer stand vor dem Revier. ‚Endlich ein Idiot weniger‘, begrüßte er mich. Er schnallte sich seine Pistole um: ‚Gib meinem Neffen mal ‚ne Cola!‘ Der Schupo spang auf und lief zum Kühlschrank. ‚Hast du schulfrei?‘ ‘Die haben mich aus der Feierstunde geschmissen.‘ ‚Dann gib ihm noch ’ne Cola.‘ Der Schupo schnellte hoch. ‚Erst wenn er ausgetrunken hat.‘ Der Schupo setzte sich wieder und wienerte seinen Tschako. ‚Irgendwann, mein Junge‘, sagte Onkel Walter, ‚wirst du einer von uns. Dann kannst du dir selber eine Coca-Cola leisten.‘“

Wie Schönfeld hier den Hass zwischen den Zonenbewohnern, der die Familien spaltet, beschreibt und wie nebenbei den deutschen Kadavergehorsam, das ist ein Kunststück für sich. Franz ist ein Stotterer und muss seine Worte genau auswählen, denn Vokale fallen ihm schwer. Daher benennt das Wort Schackelstern auch kein Gestirn, sondern Elstern, denen Franz ein „Schack“ voranstelt, um sie aussprechen zu können.

Als Stotterer wird er gehänselt. Weil er gehänselt wird, gehört er nicht wirklich dazu. So aber kann er sehen, was die anderen für normal halten, er kann die Zwischentöne hören, während die anderen auf die Partei schimpfen oder „den Spitzbart“ Ulbricht loben.

Schönfelds Buch sagt mehr über Berlin in der frühen DDR aus als manche Alltagsgeschichte, und dass er die Perspektive des Kindes gewählt hat, das vieles hört und sieht, aber nicht immer richtig interpretieren kann, gibt dem Buch eine enorme Spannung. Von diesem Autor will man schnell noch mehr lesen!

■ Gerd Schönfeld: „Schackelstern flogen spät durch milde Lüfte oder: Der Klassenfeind ist unter uns“, Basisdruck Verlag, Berlin 2014, 144 Seiten 15,80 Euro

■ Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher Verlags