Ich spüre die Blicke der Männer

LEBENSGESCHICHTE Mit zwölf, dreizehn fängt Sven Marquardt an, Richtung Alexanderplatz zu fahren. Erst gibt es dort die Weltfestspiele der Jugend, später erste Kontakte zu schwulen Männern am Neptunbrunnen

Omas werden mit dem Auftrag nach Kreuzberg geschickt: „Die neue Platte von B-52’s“

VON SVEN MARQUARDT

Damals endete die heutige U2 am U-Bahnhof Vinetastraße, nur ein paar Gehminuten von meinem Elternhaus entfernt. Dort beginnt für uns heranwachsenden Jungs jetzt jeden Tag eine kleine Reise in die große Welt. Zu Hause schmeißen wir unsere Schulmappen in die Ecke, die Hausaufgaben sind uns egal – wir folgen der Stimme der Pubertät. Und die ruft uns zum Alexanderplatz, der groß, weit und noch ein bisschen unheimlich für uns ist. Das Gute ist, wir brauchen kaum Geld, um dorthin zu kommen, zwanzig Pfennig für die U-Bahn, und selbst die sparen wir uns, denn Kontrollen gibt es nicht. Vergnügt springen wir die U-Bahn-Treppen hinab und nehmen diejenige Bahn, auf deren Anzeigetafel „Zug fährt zuerst“ steht.

Zwölf, dreizehn sind wir, und die Schönheit der alten U-Bahn-Züge, in denen wir „in die Stadt“, zum Alexanderplatz fahren, sehen wir nicht: überall Holz, Messing und rotschwarze Kunstledersitze, die ganz blank poliert sind von den Hinterteilen Tausenden Werktätiger, die darauf ihr Leben abfahren – hin zur Planstelle und zurück. Ich habe mal gehört, dass diese alten Züge heute in Nordkorea fahren. In Pjöngjang. Eine bizarre Vorstellung. Auf all dem Leben, das an den Polstern klebt und das so unmittelbar zu Berlin gehört, sitzen nun kommunistisch gedrillte Menschen in Fernost.

Für unsere Ausflüge mit der U-Bahn haben wir Jungs ungefähr fünf Stunden, dann müssen wir wieder bei unseren Eltern am Abendbrottisch sitzen. Das Geratter der U-Bahn, ihr Gehetze durch die Stadt – wir fühlen uns wie Helden! Manchmal öffnet sich eine der U-Bahn-Türen während der Fahrt, weil sie nicht richtig schließt. Dann donnert der dunkle und unheimliche Bauch der Stadt ungeschützt an uns vorbei. Am Alex liegt irgendetwas in der Luft – das wittern wir. Das Centrum Warenhaus, heute die Galeria Kaufhof, will mit seinen Auslagen den Eindruck erwecken, dass es uns an nichts fehlt in der DDR. Aus den unzähligen Intershops schwappt der unschlagbare Duft von Jacobs-Kaffee und Lux-Seife – das Aroma des Westens.

Und dann der Neptunbrunnen, im Volksmund „Nuttenbrosche“ genannt. Dort warten junge und manchmal auch nicht mehr so junge Frauen, die für ein paar Feinstrumpfhosen und eine Flasche Parfüm mit Westtouristen aufs Hotel gehen. Besucher mit Devisen sind hier genug unterwegs. Offiziell gibt es natürlich keine Prostitution in der DDR, aber die Kleidung dieser Frauen spricht Bände. Ihre Oberweiten stecken in kurzen und tief ausgeschnittenen Lurexblusen, sie wackeln in Miniröcken auf und ab, alles ein, zwei Nummern zu klein. Später, in meiner Lehre, gibt es ein Mädchen, das zum Männerkennenlernen im Operncafé Unter den Linden und im Interhotel Metropol an der Friedrichstraße auf der Lauer liegt und das auch offen zugibt. Mit Nahtstrümpfen und Knutschflecken erscheint sie nach ihren Fischzügen zum Dienst. Viele Frauen hoffen, auf diesem Wege einen potenziellen Ehemann kennenzulernen, der sie mit in den Westen nimmt. Dem Mädchen aus meiner Lehre gelingt das sogar. Sie angelt sich einen alten Millionär, der sie heiratet und bald darauf stirbt.

Der Alex ist auch unser Sehnsuchtsziel, als 1973 die 10. Weltfestspiele in Berlin stattfinden. Die ganze Stadt ist in heller Aufregung deshalb. Wir sind fasziniert, Gesichter zu sehen, die wir noch nie gesehen haben. Die von Schwarzen und Asiaten. Leute aus Kuba und Vietnam studieren und arbeiten zwar auch in der DDR, doch bleiben sie unter sich, weil die „Völkerfreundschaft“, wie sie uns offiziell immer gepredigt wird, dann doch nicht so erwünscht ist. Auf einmal – so muss man es sich vorstellen – herrscht eine Art Woodstock-Feeling in der Stadt, weil noch Tausende aus anderen Ländern zu Besuch kommen. Alle sind happy, alle haben sich lieb, alle genießen ein paar Tage ein Stück Leichtigkeit. Wann immer Jahre später in Ostberlin ein „Mulattenkind“ auftaucht, wie wir bedenkenlos sagen, ist die Vermutung nicht weit, dass es ein „Kind der Weltfestspiele“ ist. Auch meine Kumpels und ich sind außer Rand und Band in dieser Zeit. Und wir haben folgende Mission auf dem Alex: Etwas scheu und ohne Englischkenntnisse sprechen wir die Fremden auf dem Alex an, halten das offizielle Festspiel-T-Shirt hoch und fuchteln mit einem Stift. Keiner von den Angesprochenen ist berühmt, aber wir wollen trotzdem ein Autogramm.

Sind wir überhaupt in der Schule in jenen Tagen? Meine älteren Cousins jedenfalls nicht, die pennen in den Rabatten rund um den Fernsehturm, weil sie nicht loskommen von so viel ungewohnter Freiheit. Erst die Polizei, die meine Tante verständigt, gabelt sie wieder auf.

Zu normalen Zeiten läuft unsere Tour über den Alex meist so ab: Wir ziehen vorbei am Interhotel Stadt Berlin, dem heutigen Park Inn, schlendern vorbei an der Weltzeituhr und durch die Rathauspassagen bis hin zum Palast der Republik. Dort hängen wir im Foyer ab, an dessen Wänden die Altmeister der DDR-Kunstszene hängen. Manchmal bleiben wir auch die ganze Zeit an der Nuttenbrosche, und mir fällt auf, dass dort nicht nur auffällige Frauen herumsitzen, sondern auch Männer. Sie tragen das Hemd bis zum Bauchnabel offen, ihre Hosen sind oben eng und haben unten Schlag, am Handgelenk baumelt ein Unterarmtäschchen. Ich spüre die Blicke dieser Männer, etwas zieht mich magisch an. Schnell steht für mich fest: Hier bin ich richtig, hier muss ich wieder hin.

Mein Schulfreund Edgar kommt zu dieser Zeit von einer Jugendweihefahrt wieder und erzählt mir brühwarm, dass er dort Sex mit einem Mädchen hatte. Von da an weiß ich, dass er kein Teil meiner Welt mehr ist, ich fühle mich von ihm verlassen. Von nun an bin ich nur noch abweisend zu ihm. Ich habe ihn eingeweiht, dass mich Männer anziehen, aber er scheint damit komplett überfordert zu sein. Dass ich ihn „verliere“ und mit ihm auch mein Alibi, hindert mich nicht daran, mich allein loszumachen. Nun brauche ich wenigstens im Palast nicht mehr den Mädchen nachzuschauen. In dieser Zeit ändert sich mein Äußeres nach und nach, ich will keinem Idealbild mehr entsprechen. Auf meinem Jugendweihe-Foto trage ich natürlich noch einen braven Scheitel und Schlips zum Hemd. Jetzt aber sollen es Kletterschuhe sein, die Haare lasse ich wachsen und beauftrage meine Oma, mir von einer Westreise eine „Original-Levi’s“ mitzubringen. Natürlich eine zum Knöpfen.

Es ist übrigens nicht so, dass Krawatten heute in meinem Leben nicht mehr vorkommen, aber doch eher selten. Ich habe sogar eine ganze Kollektion von Fliegen, aufbewahrt in Schachteln, und wenn es ein Shooting erfordert, lege ich eine von ihnen an. Ich mag Brüche im Erscheinungsbild: Gesichtstattoos plus Fliege kommt gut.

Meine Großmutter ist es auch, die mir eine Bravo im Mieder über die Grenze schmuggelt. Schweißgebadet geht sie an den Kontrollorganen vorbei, weil sie Angst hat aufzufliegen. Etlichen Omas geht das so. Sie werden von ihren Enkeln mit handgeschriebenen Auftragszetteln in düstere Plattenläden nach Kreuzberg geschickt, auf denen nur nüchtern steht: „Die neue Platte von B-52’s“. Die halten sie den Plattenverkäufern hin, die genau wie die Kontrolleure an der Grenze komisch gucken: Oma, wat willst du denn mit New-Wave-Musik?

In der Bravo sehe ich zum ersten Mal die Sex Pistols und jage mir aus Sympathie und Verehrung eine Sicherheitsnadel durchs Ohr. Auf das große Hallo, das es daraufhin in der Schule gibt, habe ich es natürlich angelegt. Wenn man so will, ist dieser Ohrschmuck eine Art Vorspiel für meine Punk-Zeit. Lange kann ich die Nadel allerdings nicht tragen – mein Ohrläppchen entzündet sich schmerzhaft.

■ „Zum Alex“ heißt dieses Kapitel aus der eben erschienenen Autobiografie Sven Marquardts: „Die Nacht ist Leben“. Ullstein, Berlin. 224 Seiten, 14,99 Euro