Das Unvorhersehbare locken

TANZ Marcelo Evelin gehört zu den wichtigsten Choreografen Brasiliens. In „Suddenly Everywhere Is Black with People“ untersucht er die Angst vor dem Unbekannten und kommt damit zum Festival Tanz im August

Das Ergebnis jedenfalls bewegt die Gemüter, das zeigen Kommentare im Netz

VON ANNETT JAENSCH

Matt glimmen Leuchtstäbe. Sie begrenzen die abgedunkelte Spielfläche und lassen sie wie einen überdimensionierten Boxring wirken. In diese Szenerie hinein bricht der Pulk aus fünf Performern. Ihre nackte Haut ist pechschwarz angemalt, sie halten sich an den Händen und kreiseln durch den Raum. Eine Stunde lang kommen Performer und Publikum sich in dieser fahl ausgeleuchteten Zwischenwelt aufregend nahe. Aufregend, weil das Unvorhersehbare das Geschehen bestimmt.

Der brasilianische Choreograf Marcelo Evelin hat diese Versuchsanordnung erdacht und präsentiert sie ab Samstag auf dem Festival Tanz im August. Faszinierend findet er die Dynamiken, die in Gang kommen, wenn Menschenmengen sich zusammenballen. „Es beschäftigt mich, weil das Phänomen überall auf der Welt auftaucht.“ Besonders die Lektüre von „Masse und Macht“ von Elias Canetti habe ihm Impulse gegeben. Nichts fürchte der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes, heißt es im ersten Kapitel, erst die Masse könne ihn von dieser Furcht erlösen.

Auch wenn Evelin keine direkte Ummünzung in ein künstlerisches Experiment im Sinn hatte – zumal der geschützte Theaterraum nur bedingt für soziopsychologische Verallgemeinerungen taugt –, legt das Stück doch interessante Mechanismen frei. „Suddenly Everywhere is Black with People“ wurde seit der Premiere 2012 auf Bühnen in Nord- und Südamerika, in Europa und Asien gezeigt. „Zu meiner Überraschung reagiert das Publikum überall mehr oder weniger gleich“, sagt Evelin. „Zuerst halten viele Abstand, nach einiger Zeit entwickelt sich jedoch Interaktion und Nähe. Selbst spontane Küsse für die Performer hat es schon gegeben.“

Unter der Farbschicht aus Kohlestaub und Öl stecken Darsteller aus Japan, Brasilien und den Niederlanden. Natürlich stößt das gemeinsame Agieren als dunkler Korpus auch in die Blackfacing-Debatte hinein. Evelin möchte seinen Ansatz jedoch fernab von Fragen der Hautfarbe betrachten, ihm gehe es um die Dunkelheit an sich, darum, dass Unterschiede verschwinden. „Mir war wichtig, Performer aus verschiedenen Ländern zusammenzubringen. Für das Stück haben wir auch unsere eigene Komfortzone verlassen.“

Das Ergebnis jedenfalls bewegt die Gemüter, das zeigen Besucherkommentare im Internet: Von intim und verstörend bis überwältigend reicht das emotionale Spektrum. Liebt er es, sein Publikum mit interaktiven Formaten herauszufordern? „Es geht mir nicht um die Konfrontation an sich. Ich glaube aber an die Kunst, die etwas auslöst.“

Mehr als 25 Stücke gehen auf das Konto von Marcelo Evelin. Der 52-Jährige gilt als eine der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Tanzszene Brasiliens. Seinen künstlerischen Fingerabdruck hat er über weite Strecken in Europa geformt. Mitte der 80er Jahre ging er nach Paris und später nach Amsterdam, um Tanz und Choreografie zu studieren.

1995 gründete er die künstlerische Plattform „Demolition Inc.“. Aus dem Namen spricht eine gewisse Lust am Dekonstruieren. „Mich hat schon immer der Abriss von Gebäuden fasziniert“, erklärt Evelin, „es ist ein sehr komplexer Prozess, der an eine Choreografie erinnert. Und es macht Platz für Neues.“

Etwas gänzlich Neues für ihn selbst begann im Jahr 2006, als er beschloss, zurück in seine Heimatstadt Teresina zu gehen. Er hatte das Angebot erhalten, in einem Vorort das Kulturzentrum „Núcleo do Dirceu“ aufzubauen. „Diese Aufgabe ist mit viel Reibung verbunden. Ich spüre, dass Kunst hier wirklich Teil eines sozialen Prozesses ist.“ Direkter und politischer, so betont er, seien seine Arbeiten seit der Rückkehr nach Brasilien geworden.

Wie etwa „Bull Dancing“ (2006) und „Matadouro“ (2010), beide Produktionen liefen hierzulande beim Festival „Brasil Move Berlim“. In „Matadouro“ (Schlachthof) greift er blutige Kapitel in der brasilianischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf und schickt dafür acht Tänzer auf einen Parcours der Verausgabung. Dass er mit den rohen und zugleich sinnlichen Körperbildern mitunter aneckt, nimmt er in Kauf.

Das Engagement in seiner Heimat hält Marcelo Evelin keineswegs von internationalen Projekten ab. Seine neueste Arbeit „Batucada“, die durch mehrere Länder touren wird, zeigt erneut sein Faible für manifesten Kollektivismus. 50 Akteure, die er teilweise an den Aufführungsorten rekrutiert, werfen sich in eine Prozession, die die Grenzen von frenetischem Karneval und Protestzug verwischt. Für 2015 ist auch eine Aufführung in Deutschland geplant.

■ „Suddenly Everywhere Is Black with People“ von Marcelo Evelin, 23. 8., 18 und 21 Uhr + 24. 8., 18 Uhr, HAU 2