Flucht in die Fiktion

GESELLSCHAFT Beim Berliner Literaturfestival sprach der haitianische Schriftsteller Lyonel Trouillot über das Vertrauen in Krisenzeiten

Lyonel Trouillot liest mit tiefer, heiserer Stimme. Der Beitrag des haitianischen Autors zu der Reihe „Kulturen des Vertrauens“ des Literaturfestivals Berlin ist ernst. Er fragt: „Wenn man Haitianer ist, – wie soll man da, ob als Volk oder als Individuum, der internationalen Gemeinschaft vertrauen?“ Das Sklavensystem der Kolonialherren, der primäre und der sekundäre Rassismus, die Diktatur Duvaliers. „Die Geschichte lehrt uns das Misstrauen“, schreibt Trouillot.

Er kann nicht anders, als die Menschen in Herrscher und Beherrschte einzuteilen. Und wie sollen die Bewohner der Slums ihren bourgeoisen Nachbarn vertrauen, die hoffen, dass der Regen sie davonspült? Vertrauen ist nur zwischen Gleichen möglich. Aber die Gleichheit komme in den Reden der Politiker nicht mehr vor, so der Autor. Und das „gut gemeint“ der westlichen Staaten sei ein weiterer Ausdruck ihrer Überlegenheit.

Wie der Essay beweist auch sein Roman „Die schöne Menschenliebe“, dass Trouillot das absolute Gegenteil von naiv ist. Er arbeitet als Professor, das merkt man an den langen Sätzen und der gedanklichen Komplexität. Im Haus der Berliner Festspiele sitzt er ganz entspannt im roten T-Shirt auf der Bühne und zieht ab und zu die Augenbrauen hoch. In der Diskussion erzählt Trouillot von der Uni von Port-au-Prince.

Von „den“ Studenten könne nicht die Rede sein. Es gebe nur arme und reiche Jugendliche. Die Reichen fliegen jährlich zum Skifahren nach Colorado und studieren außerhalb von Haiti. Und nicht nur in den Romanen heiraten die Kinder der Oberschicht immer nur Weiße. Für die Übrigen, und das ist die Mehrheit, zitiert Trouillot Henri Michaux: „Entreißen, was sie mir weggenommen haben“ – das sei die Devise seiner Studenten. Sie setzen sie durch, zur Not mit Gewalt. Drei Millionen Menschen wohnen in Port-au-Prince. Trotzdem gibt es kein einziges Theater und kein Krankenhaus, das diesen Namen verdiene, sagt Trouillot.

Nur die Literatur floriert. Der Autor erklärt sich das mit der Hoffnung, die in die Fiktion gesetzt wird: sie solle den politischen Mangel ersetzen. Alles, was für das Zusammenleben sonst so da ist, Soziologen, Psychologen, Kultur – in Haiti gibt es stattdessen Romane. Immerhin. Aber um eine Politik des Vertrauens aufzubauen reicht das nicht.

„Als Haitianer wäre es verrückt, den USA zu vertrauen“, sagt Trouillot. Es spreche aber nichts dagegen, mit amerikanischen Autoren in einen Dialog zu treten. Oder mit einer kleinen amerikanischen Partnerstadt. Individuen statt Institutionen.

Trouillot ist 1956 in Port-au-Prince geboren, während der Diktatur lebte er im Exil in den USA, dann kehrte er zurück. Jedes Mal, wenn er reist, inspiziert das Flughafenpersonal seine Schuhe. Überhaupt beruhe das ganze öffentliche Leben auf Misstrauen. Trotzdem: persönlich entscheidet er sich gegen den Pessimismus: Er hofft auf die Sprache und die „poetische Dimension“ seines Gegenübers. Es bleibt ein Risiko. Aber wenn irgendwo Vertrauen entstehen kann, dann im Gespräch.

CATARINA VON WEDEMEYER