DURCHS WILDE SCHÖNEBERG
: Verträumtes Tänzlein

Kühe grasten im Hinterhof, Mastschweine standen im Keller

„Hey, ihr glaubt wohl, ihr könnt hier einen auf 36er machen?“ Zouhier El-Osta freut sich sichtlich, als die 30 Leute auf der Goebenstraße bei seiner Aggro-Ansage zusammenzucken. Hehe. War nicht so gemeint. Der junge Mann mit dem coolen schwarzen Vollbart, grauem Hütchen und Kopfhörern hat bei dem Kiezspaziergang durch Schöneberg nur ’ne kleine Hip-Hop-Performance hingelegt. Damit wir ahnungslosen Kiezspaziergänger mal sehen, wie das war, als sich genau hier die „Schöneberger Kings“ ihre Kämpfe mit den „36 Boys“ aus der Kreuzberger Naunynstraße lieferten.

In der kalten Frühlingssonne stehen wir vor einem vergitterten Parkplatz. Wenn Zouhier sich an seine Jugend während der nuller Jahre links und rechts der Potsdamer Straße erinnert, schrumpft das arrivierte Hauptstadtquartier plötzlich zum Dorf voller vergessener Geschichten, die seine Bewohner bis heute in Bann halten.

„Ich bin immer in der Nähe geblieben“, freut sich auch Claus Rechmann, der in dem Sportpalast, in dem Nazi-Goebbels den „totalen Krieg“ ausrief, 1969 noch Jimi Hendrix live erlebt hat. Vor dem berüchtigten „Sozialpalast“, einem tristen Massiv aus Sozialwohnungen, der ihn ersetzt hat, macht er ein paar verträumte Tanzschritte.

Zouhier kommt immer wieder aus Lichtenrade, wohin die Familie wegen der steigenden Mieten im Kiez ziehen musste, an die Potse zurück. „Wo ist es schöner?“, frage ich beim nächsten Halt in der Steinmetzstraße Joachim Mendler, „Schöneberg oder Stadtrand?“ Bis 1982 führte der Landwirt in der Steinmetzstraße den letzten innerstädtischen „Milchhof“ Berlins: 30 Kühe grasten im Hinterhof, 60 Mastschweine standen im Keller. Als der Kiez „saniert“ wurde, musste Mendler raus aus Schöneberg. Seine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Rudow. Da können die Kühe raus.“ INGO AREND