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: Entfernte Bekannte

Obwohl draußen die Mutigen schon T-Shirt tragen, ist sie noch winterlich gekleidet

Die Frau in dem braunen Mantel und den grau gewordenen Haaren kam mir schon an der Käsetheke bekannt vor. Als sie vor dem Regal mit den Nudeln abermals meinen Weg kreuzt, fällt mir auch wieder ein, woher ich sie kenne. Eine entfernte Bekannte aus einer Zeit vor vielen Jahren. Nicht nahe genug, als dass es nun einen Grund gäbe, sie anzusprechen. Aber nach und nach fallen mir ein paar Details zu ihr ein, die zeigen, dass wir uns doch besser kannten, als ich es zuerst in Erinnerung hatte.

Obwohl draußen die ersten Frühlingssonnenstrahlen scheinen und die ganz Mutigen schon T-Shirt tragen, ist sie noch winterlich gekleidet, mit gefütterten Stiefeln, Wollmantel und Schal. Wie sie da am Obststand hastig Äpfel in eine Papiertüte steckt, erinnert sie mich an eine im Erdreich pickende Saatkrähe. Wahrscheinlich wegen der durchgehend dunklen Winterkleidung strahlt sie etwas Lebensunfrohes aus.

An der Kasse habe ich Gelegenheit, sie genauer zu mustern. (Warum fallen mir eigentlich immer andere Leute auf, aber ich offenbar nie anderen? Muss wohl an meinem Dutzendgesicht liegen …) Mit fahrigen Bewegungen packt sie ihren Einkauf aufs Band.

Sie ist alt geworden, denke ich. Aber das denke ich inzwischen bei fast jedem, den ich nach langer Zeit wieder treffe. Und andere denken es wahrscheinlich über mich. Eine Stirnnarbe, die sie früher nicht hatte, scheint auf einen Unfall hinzudeuten. Auch die scharf gewordenen Züge sprechen nicht für ein glückliches, erfülltes Leben.

Draußen vor dem Supermarkt sehe ich sie noch einmal, wie sie auf ein Fahrrad steigt, an das ein bunt bemalter Anhänger angebracht ist. Sollte der zum Kindertransport verwendet werden, wie zu vermuten steht, hat es das Leben wohl doch besser mit ihr gemeint, als der bittere Zug um ihre Mundwinkel zunächst annehmen ließ. TILMAN BAUMGÄRTEL