Mehr Leben in der Bude

FOTO Der niederländische Fotograf Iwan Baan zeigt den Menschen in der Architektur – so revolutionierte er die gängigen Darstellungen, wie eine Ausstellung in Herford beweist

Auf das richtige Wetter würde Iwan Baan wohl nie warten. Architektur muss auch funktionieren, wenn es regnet

VON MARKUS WECKESSER

Innerhalb von nur wenigen Jahren revolutionierte Iwan Baan die Architekturfotografie. Der Niederländer brachte buchstäblich Leben in die Bude. Denn seine Bilder zeigen, wie der Mensch in und mit Architektur lebt. Und das war bislang verpönt. Häuser wurden zwar zur Benutzung durch Menschen gebaut, auf Fotos hatten sie jedoch nichts verloren. Meister der alten Schule wie Ezra Stoller und Julius Shulman inszenierten Gebäude als solitäre Kunstwerke, als unantastbare Schöpfungen baumeisterlicher Genialität. Ihnen war allein wichtig, wie Architektur aussah und wirkte. Nicht aber, wie sie tatsächlich im Alltag funktionierte. Dabei erweist sich erst im Gebrauch, ob die Ideen eines Architekten den Bedingungen der Realität standhalten und ob sie von den Nutzern angenommen werden.

Iwan Baan versteht sich als Dokumentarfotograf und interessiert sich mehr für die sozialen und urbanen Zusammenhänge als für die Architektur selbst. Davon habe er so gut wie gar keine Ahnung. Sein architektonisches Verständnis sei intuitiv. „Bezeichnen Sie mich nicht als Architekturfotografen“, bittet Baan. Umso bezeichnender ist, dass Stararchitekten wie Rem Koolhaas, Toyo Ito, Zaha Hadid und Sou Fujimoto zu seinen Auftraggebern zählen. Wenn Architektur den Anspruch hat, dynamisch, innovativ und demokratisch zu sein, kann es schließlich nicht Aufgabe der Fotografie sein, sie der Wirklichkeit zu entrücken.

Das Stadion als Baustelle

Nach seinem Studium an der Königlichen Kunstakademie in Den Haag lernte der 1975 geborene Iwan Baan Rem Koolhaas kennen, der ihn mit der Dokumentation der Sendezentrale des chinesischen Staatsfernsehens beauftragte. Weil er oft nach Peking reiste, fotografierte er den Bau von Herzog & de Meurons Olympiastadion gleich mit. Allerdings nicht als Meisterwerk der Konstruktionskunst, sondern als Baustelle, in deren Schatten Wanderarbeiter ihr notdürftiges Lager aufgeschlagen haben.

Dank der gut honorierten Aufträge in aller Welt verfolgt Iwan Baan auch eigene Projekte. „Niemand schickt dich in einen Slum, um ein schönes Foto machen“, sagt Baan und zeigt auf das Bild von einer Siedlung koptischer Christen, die in Kairo als Müllsammler arbeiten. Für das Herforder Museum MARTa hat der Fotograf eine Auswahl der Arbeiten zusammengestellt, die im letzten Jahr entstanden sind. Der Titel „52 Wochen, 52 Städte“ lässt erahnen, wie dicht sein Terminkalender ist: Gestern Ägypten, heute Indien, morgen China und dann Japan. Das Leben aus dem Koffer stört ihn nicht. Nichts langweilt den Fotografen mehr als Routine. Ein festes Konzept hat er jedenfalls nicht. Ausgestattet nur mit einer handlichen Spiegelreflexkamera lässt sich Baan immer neu auf die jeweilige Situation ein. Auf das richtige Wetter würde er wohl nie warten. Architektur muss auch funktionieren, wenn es regnet.

Oder wenn mal der Strom ausfällt. So wie in New York nach dem Hurrikan „Sandy“. Als Iwan Baan realisiert, dass ein Teil Manhattans im Dunkeln lag, organisierte er auf abenteuerliche Weise einen Helikopter und fotografierte die Halbinsel aus der Luft. Die spektakuläre Aufnahme landete auf der Titelseite des New York Magazine und ging um die Welt. Iwan Baan selbst sah darin mehr als bloß einen gelungenen Schuss. Für ihn ist sie nicht weniger als ein Sinnbild für den Niedergang der Infrastruktur des Landes. Diese Verletzlichkeit der Stadt zeigt sich auch in den Bildern der dunkeln Straßen. Nur an einer Ecke verbreitete der Stand eines mobilen Händlers ein wenig Licht.

Iwan Baan mag Luftaufnahmen. Ist kein Hubschrauber zu mieten, nutzt er ein kleines, fernsteuerbares Modell mit Kamera. Dank dem Blick von oben wird deutlich, wie sich ein Gebäude in die Umgebung einfügt. Der neue Ableger des Louvre im französischen Lens umfasst etwa fünf Gebäudeteile, die mit einer Frontalaufnahme gar nicht alle zu erfassen sind. Hinweis auf den Bergbau geben die riesigen Halden im Hintergrund des Bildes und der markante Siedlungsbau. Auch der Blick auf das Vitra-Gelände in Weil am Rhein ist aufschlussreich. Von der Straße sind die Gebäude nur im Anriss zu sehen, und die von Saana gebaute Produktionshalle erscheint als breiter weißer Strich. Von oben aber ist ihre ganze Dimension und runde Form zu erfassen.

Die 60 Einzelbilder der Ausstellung in Herford hat der Fotograf als eine Art visuelles Tagebuch angelegt. Nur zu gerne hätte man mehr als jeweils nur ein oder zwei Bilder von einem Ort gesehen. Insbesondere die freien Arbeiten, die um erläuternde Texte ergänzt sind, wecken das Interesse. So dokumentierte Baan in Japan temporäre Unterkünfte, die der Pritzker-Preisträger Toyo Ito mit befreundeten Architekten für die Opfer der Erdbebens von 2011 gebaut hat. Das ist spannend, da es sich nicht um die üblichen Fertigbausätze handelt, sondern um originäre Bauten, die auch in anderen Katastrophengebieten Nachahmer finden könnten.

Iwan Baan hat einen Paradigmenwechsel in der Architekturfotografie eingeläutet. Auch begeistert er ein breites Publikum, weil er das Potenzial von Architektur auslotet, indem er den Menschen zum Maßstab macht. Indes wäre es angemessen, vor allem seine Luftaufnahmen groß zu präsentieren, damit die Details zu sehen sind. In niedrigen Räumen wie in Herford entfalten die kleinformatigen Bilder leider nur schwer ihre Wirkung.

■ Bis 16. Februar 2014, MARTa Herford, Katalog erscheint im Januar (Kehrer Verlag)