Mit den Ähnlichkeiten stimmt etwas nicht

KINO Der iranische Regisseur Abbas Kiarostami hat seinen jüngsten Film „Like Someone in Love“ in Tokio gedreht. Seine Figuren beobachtet er so genau, so besorgt und zugleich so unaufdringlich, als wäre es Liebe

Der Aufwand war vergeblich, aber vielleicht ist das, was an Stelle des Erwarteten geschieht, auch schön

VON EKKEHARD KNÖRER

Am Ende geht eine Scheibe zu Bruch. Das ist kein Zufall, denn „Like Someone in Love“ ist ein Glasscheibenfilm. Ein Film des Trennens und Ineinandergleitens der Sphären, des Drinnen und Draußen, des Drinnen im Draußen, der Stadt und des Autos, der Bilder und Einstellungen, in denen sich die Figuren nur temporär einrichten können, der Szenen, in die sie geraten und aus denen sie wieder verschwinden.

Akiko (Rin Takanashi), die Heldin, ist jung; Nein sagen fällt ihr schwer. Sie studiert Soziologie, bringt in der Prüfung aber Darwin und Durkheim durcheinander. Wir sehen sie erst in einem Café in Tokio, abends. Das heißt nein, erst sehen wir sie nicht, denn sie sitzt im Rücken der Kamera. Was wir sehen, ist das geschäftige Treiben in einem Café, was wir hören, ist Akiko im Telefongespräch mit ihrem eifersüchtigen Verlobten. Sie ist noch nicht ganz drinnen im Film, drinnen in ihrer Geschichte. Und endgültig rein, sodass sie drin bleibt, kommt sie bis zuletzt eigentlich nicht. In der letzten Einstellung ist sie wieder im Off. Da ist nur noch das Loch in der Scheibe wie ein Riss im Bild. Aber nicht nur Akiko, auch die zweite Hauptfigur ist aus dem Film dann wieder getilgt.

Takashi (Tadashi Okuno), der andere Protagonist, ist alt, um die achtzig; ein Gelehrter im Ruhestand, er war Soziologe, vielmehr er ist es – das Telefon klingelt und es geht um sein jüngstes Buch. Er ist noch immer geschätzt, wird noch immer gefragt. Akiko und er begegnen einander, aber nicht auf dem Gebiet der Soziologie. Sie verdient sich ihr Studium durch gehobene Prostitution. Im Café saß sie, das begreift man nicht auf der Stelle, auf Abruf. Ihr Zuhälter, ein distinguierter Herr im weißen Hemd, schickt sie in dieser Nacht zu Takashi. Er telefoniert draußen, die Kamera verlässt das Café, filmt durch die Scheibe, auf der man den Rücken des Zuhälters und durch die hindurch man verschwommen Akiko erkennt. Eine Stunde fährt das Taxi dann in die Vorstadt, auf den Scheiben des Autos ziehen die Lichter der Großstadt, ziehen Farben, Autos, sich vergnügende Menschen in den Vergnügungsvierteln von Tokio vorbei. Die Kamera blickt durch die Scheibe von außen nach innen, sie blickt auf Akiko und im Hintergrund ist hinter den Scheiben des Autos die nächtliche Stadt. Es ist, als bewegte sich Akiko, auf dem Weg zu Takashi, in diesem Auto durch dieses Draußen wie durch eine ihr ganz fremde Welt.

Drinnen ein Drama. Über Kopfhörer hört Akiko ihre Handymailbox ab. Den ganzen Tag schon hat ihre Großmutter versucht, sie zu erreichen. Sie kam aus der Provinz in die Stadt, wollte die Enkelin sehen. Sie wartet am Bahnhof, sagt sie in einem Anruf, sie geht in ein Restaurant in der Nähe des Bahnhofs, sagt sie in einem anderen Anruf, sie ist jetzt draußen unter einer Statue, sagt sie. Da fährt Akiko im Taxi am Bahnhof vorbei. Man sieht die Großmutter unter der Statue, Akiko hält das Taxi nicht an, lässt den Fahrer nur eine weitere Runde drehen. An die Stelle der Großmutter, die sie nicht trifft, tritt Takashi, der alte Mann, den Akikos Verlobter am nächsten Tag für ihren Großvater halten wird.

„Like Someone in Love“ ist Abbas Kiarostamis zweiter Film in der Fremde. Aber auch sein Verhältnis zur Heimat, dem Iran, war stets ästhetisch gebrochen. Darum schließt sein Werk im Exil an die Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte fast nahtlos an. Seine Filme haben immer schon Leerstellen, doppelte Böden, Bilder im Bild, waren bei aller oberflächlichen Klarheit in der Tiefe opak, enthielten und waren Rätselbilder, die sich nicht auflösen lassen, die auch nicht nach einer Auflösung verlangen, die aber ein Publikum fordern, das genau hinsieht und hinhört, das auf kleinste Verschiebungen und minimale Bezüge achtet, auf Wiederholungen und Abweichungen und auf Auslassungen im dicht gewebten Filmtext. Kiarostamis Filme sind immer komplex, voller Unterscheidungen, die nicht aufgehen. Er ist ein großer Meister der Untermarkierung. Aber Kiarostamis Filme sind auch ruhig, klar und einfach.

Der Vorgänger, „Copie Conforme“, folgte einem Mann und einer Frau durch die Toskana, wobei äußerst kunstvoll in der Schwebe blieb, ob Juliette Binoche und William Shimell da ein Paar sind, das schon ewig verheiratet ist, oder ob sie sich gerade erst kennenlernen und ein verheiratetes Paar spielen. Wie „Like Someone in Love“ endete „Copie Conforme“ mit einem Blick durch ein Fenster nach draußen. Auch da das Fenster gerahmt, sodass auch das Drinnen im Bild war. In „Copie Conforme“ aber ging keine Scheibe, als wäre sie die Leinwand, zu Bruch. Beides sind Filme, in denen mit Ähnlichkeiten etwas nicht stimmt.

Takashi will gar nicht Sex von Akiko. Nur einen Abend mit ihr. Sie sieht sich in seiner Gelehrtenstube um, während er telefoniert. Sie nimmt Fotos in die Hand und sieht ein Bild an der Wand, das sie kennt. Eine junge Frau ist darauf im gestreiften Kimono und ein weißer Papagei. Es ist die Kopie eines klassischen Gemäldes, „Erziehung eines Papageis“ von Chiyoji Yazaki aus dem Jahr 1900. Dass sie die Frau auf dem Bild sei, habe man ihr als Kind immer erzählt, sagt Akiko. Sie stellt sich vor das Bild, dreht sich einen Knoten ins Haar und sieht jetzt wirklich aus wie die Frau auf dem Bild. Auch den Frauen auf den Fotos sieht sie sehr ähnlich.

„Das ist Yoko“, erklärt Takashi, seine Frau, von deren Schicksal man nichts weiter erfährt. „Das ist Miko“, auf dem anderen Foto. Später wird eine Nachbarin von Takashi sie für dessen Enkelin halten. Ein Ähnlichkeitswahn, der auf die realen Verhältnisse überzugreifen beginnt. Denn das ist die ganze Geschichte: Ein falscher Großvater entwickelt Gefühle für seine falsche Enkelin, bettet sie, begleitet sie, schützt sie, nimmt sie bei sich auf – like someone in love.

Nicht nur schlafen sie nicht miteinander. Auch das gemeinsame Mahl, die von Takashi bereitete Suppe mit Krabben, verschmäht Akiko. Sie geht gleich ins Bett, ist sehr müde und schläft bald ein, vorher noch eine kurze Unterhaltung im Schlafzimmer – bei der die Kamera den auf einem Stuhl sitzenden Takashi zeigt, Akiko ist die ganze Zeit nur als verschwommene Spiegelung in der Scheibe des Flachbildfernsehers sichtbar. Die Unterwäsche ist weiß, wie das Hemd des Zuhälters in der Scheibe am Anfang auch weiß war. Akiko setzt sich nicht an den Tisch, den Takashi gedeckt hat. Er hat die Flasche Wein schon geöffnet, die CD mit Ella Fitzgeralds Version des Songs „Like Someone in Love“ schon eingelegt. Vielleicht ist es der Geburtstag der Frau, der Tochter, der Enkelin: Man weiß es nicht. Der Aufwand war vergeblich, aber vielleicht ist das, was an Stelle des erwarteten Ablaufs geschah, dann auch schön. Jedenfalls nimmt Takashi der jungen Frau, der Fremden, die wohl einer anderen Platz einnehmen soll, ihr Verhalten nicht übel. Er stöpselt vielmehr zärtlich besorgt das Telefon im Schlafzimmer aus.

Man muss sagen: Kiarostamis Zärtlichkeit steht der Takashis in nichts nach. Er beobachtet seine Figuren so genau, so besorgt, so zugewandt und zugleich so unaufdringlich, als wäre es Liebe: Like someone in love. Am nächsten Tag übrigens schläft Takashi, vielleicht war er die ganze Nacht wach, am Steuer des Autos mitten in der Stadt ein. Das hält der Film fest, macht kein Drama daraus, ein paar Sekunden später wacht der alte Mann wieder auf und fährt weiter.

Es gibt dann übrigens doch noch ein Drama. Der Verlobte Akikos ist, wie erwähnt, ein eifersüchtiger Mann. Ihm dämmert nach einer Weile, dass mit dem Verhältnis von Takashi und Akiko etwas nicht stimmt. In Wahrheit hat er gar nichts verstanden. Wer Eindeutigkeit will, bringt Scheiben zu Bruch. So was wie Liebe ist das sicher nicht.

■ „Like Someone in Love“. Regie: Abbas Kiarostami. Mit Rin Takanashi, Tadashi Okuno. Frankreich/Japan, 2013, 109 Min.