Die unvollendet an sich Interessierten

PILGER Den experimentellen Lebensweisen treu geblieben: Christa Ritters E-Book „Styx“ über eine Indienreise mit Jutta Winkelmann, Brigitte Streubel und Rainer Langhans

VON DETLEF KUHLBRODT

Der Aufbruch von 1968 ist schon eine Weile her, und mit der stetig größeren Entfernung gerät vieles in Vergessenheit, was ihn begleitet hatte. Es ging ja auch um andere Lebensformen jenseits der Kleinfamilie, um spirituelle Leere, die gefüllt werden wollte. Um Hermann Hesse, die Suche nach dem authentischen Selbst und solche Dinge, die ein bisschen peinlich klingen.

Das damalige Kommune-1-Mitglied Rainer Langhans fand wie viele in Indien einen Guru, der inzwischen leider gestorben ist. Und lebt seit den 70ern in einem virtuellen Harem mit sechs Frauen, oder eher umgekehrt: Sechs Frauen haben einen Mann.

Im Frühjahr 2013 gingen drei der Haremsfrauen, Jutta Winkelmann, Brigitte Streubel, Christa Ritter, mit Langhans auf eine siebenwöchige Indienreise. Eine „finale Pilgerreise“, wie die an Knochenkrebs erkrankte Jutta Winkelmann in dem Dokumentationsfilm „Good Luck Finding Yourself“ sagt, den ihr Sohn Severin über die Fahrt drehte. Auf der Reise schrieb die Filmemacherin und Journalistin Christa Ritter einen Blog, und um die Darstellung der allzu harmonischen Doku zu korrigieren, machte sie aus dem Blog ein Buch, das gerade als E-Book erschienen ist.

„Styx“ liest sich teils wie eine Autobiografie: „Ich war Ende der fünfziger Jahre noch in meiner verstörenden Pubertät, als ich beschloss, nie eine Erwachsene zu werden“, heißt es am Anfang. „Ende der Siebziger war ich dann mit solchen Vorbereitungen für das Eigentliche so unglücklich geworden, dass ich […] jemanden treffen musste, der mir die Tür zu einer notwendigen Reise zeigen würde. Dieser Jemand war Rainer Langhans, der schon eine Weile ver-rückt lebte“, zurückgezogen „in einer Art Besenkammer“ in München-Schwabing.

An 68 erinnert sich Christa Ritter als „Erlösung“, „keine Geschlechter, kein Besitz, alle waren Freunde“. Doch die Selbsttäuschung war groß: „Statt in der Liebe war ich der Hölle gelandet“, hinter der „devot lächelnden Alltagspose steckte eine autoritäre Person“.

Nachdem man anfangs über einige Begriffe stolpert – „Maja“, „Sadhus“, die emphatische „Suche“ oder auch das eine Weile gern verwendete „ver-rückt“ –, liest sich ihr Indientagebuch dann doch recht angenehm und interessant. Und weil man als „Ex-Fan des Sixties“ (Jane Birkin, Stereo Total) die handelnden Personen und ihren kulturellen Background so gut kennt, nimmt man die Reisenden als Romanpersonen oder Helden einer Endlosdokusoap wahr, die lose verknüpft ist mit anderen 60er-Jahre-Memorabilia: der Beatgeneration, Bob Dylan, Leonard Cohen und dem Drogenpapst Timothy Leary, dessen Sohn, Zagg Leary, sie in Südindien treffen. Natürlich auch mit der taz, die als später 68er Spross die Bühne der Weltgeschichte betreten hatte.

Die „unvollendet leidenschaftlich an sich selbst Interessierten“, die ihren experimentellen Lebensweisen treu geblieben sind, wirken inzwischen auch ein bisschen wie exzentrische Onkel und Tanten, deren Sprache etwas komisch wirkt, wenn sie von „Gefühlsarbeit“ sprechen oder wenn Christa Ritter sagt, dass Rainer sagt: „Ich mache heute mal den Vorschlag, dass Jutta und ich ohne euch Frauen weiterfahren. […] Ihr beide seid kaum zu euch gekommen, sondern habt auf Jutta stark projiziert“, wenn sie über einen Abend am Strand berichtet: „Wir sprachen über Gier, Besitzdenken und unnötigen Samenverlust.“

Beim Lesen hat man das Gefühl, dabei zu sein in Indien, ist oft aber auch verwundert, wie eifersüchtig die Frauen aufeinander sind, wie sehr sie um die Aufmerksamkeit von Rainer Langhans konkurrieren, der die Nächte gern im Internet verbringt. Wie viel Angst da ist, obgleich sie nicht rauchen, keine Drogen nehmen, erfahrene Meditierer und Weltenbummler sind und sich schon fast fünfzig Jahre lang kennen.

„Jutta klagt darüber, nie im Mittelpunkt des Films zu stehen“, notiert Christa Ritter, oder: „Brigitte ist doch wie ein kleines Mädchen, das ständig erzählt, wie es ihm geht.“ Die darstellenden Alt-68erinnen wirken seltsam jugendlich, vielleicht auch weil man die großen Fragen, nach dem richtigen Leben, eher jungen Leuten zugesteht.

Am Ende des Buchs kommen auch die anderen Reisebegleiterinnen länger zu Wort. Brigitte Streubel sagt zum Beispiel über ihre 17 Jahre mit Rainer Langhans: „Rainer bekam schon einen Samenverlust, wenn ich sein Glied nur anschaute. […] Die in Bild veröffentlichte Bilanz seiner Samenverluste […] über unsere ersten Jahre hatte jeder lesen können. Immerhin hat er durch mich trainieren können, von dreimal Samenverlust im Monat auf fast nur noch einmal im Jahr zu kommen.“ Nicht zu kommen ist eine alterprobte Kulturtechnik, die die Spiritualität verbessert, als alternder Pubertist muss ich aber immer lachen, wenn es um solche Dinge geht.

„Jutta sucht einen Weg, ihren Krebs als positive Herausforderung zu leben. Mal geht’s ihr ganz gut, dann wieder Abstürze. Aber eher kurz. Ich glaube, sie schafft es“, so schrieb mir Christa Ritter.

Der letzte Satz ihres Buchs (in dem es noch um tausend andre Dinge geht; Liebe, Tod, indische Gurus, das piratenhafte Leben etc.) klingt sympathisch nüchtern und in seiner Alltäglichkeit sehnsüchtig: „Ein guter Freund ruft an. Ich gehe zu ihm in den Park zum Tischtennisspielen.“

Christa Ritter: „Styx“. Ebook, z. B. unter www.merah.de 1,99/9,99 Euro ohne/mit Fotos