THEATER

betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen

ESTHER SLEVOGT

Was ist Gerechtigkeit? Gibt es das überhaupt? Oder gibt es nur Gesetze? Und eigentlich genügen nicht mal die. Am Fall eines brandenburgischen Pferdehändlers, Michael Kohlhaas mit Namen, exerzierte vor etwas mehr als 200 Jahren Heinrich von Kleist diese Frage gnadenlos durch: der rechtschaffene Kohlhaas wird Opfer von Fürstenwillkür und greift zur Selbstjustiz, als rechtliche Mittel versagen und das Unrecht, das ihm geschieht, für ihn ins immer Unerträglichere wächst. Motto: „Fiat iustitia, et pereat mundus“ („Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“). An dieser Blindwut setzt die Regisseurin Yael Ronen mit ihrem neuen Projekt an, die man als im Nahen Osten Aufgewachsene durchaus als vertraut mit den Folgen allseits einseitig verfochtener Rechtsbegriffe betrachten kann. „Das Kohlhaas-Prinzip“ ist es überschrieben und ist als sehr freier Dialog mit Kleists Novelle über Gerechtigkeit, Rache und Terror angelegt. Gemeinsam mit ihrem Ensemble hat Yael Ronen eine Geschichte mit Gegenwartsbezug entwickelt, die zwischen Berlin und dem Nahen Osten spielt (Gorki Theater: „Das Kohlhaas-Prinzip“, Premiere: 23. 5., 19.30 Uhr).

Der Ort Sodom steht für so ziemlich das Gegenteil von Recht und Ordnung. Deswegen wurde er in der berühmten biblischen Geschichte vom höchsten Weltenrichter dann ja auch ausgelöscht. Für den berüchtigten Marquis de Sade wurde der Ort Sodom im 18. Jahrhundert zum Synonym für die gottverlassene Welt, in der das Vernunftprinzip der Aufklärung pervertierte. Der Filmemacher Pier Paolo Pasolini deutete im 20. Jahrhundert den Stoff zwecks Faschismuskritik neu. An der Volksbühne nutzt nun JohannKresnik, der Altmeister des drastischen Polit-Tanztheaters, „Die 120 Tage von Sodom“ für eine Auseinandersetzung mit dem totalitären Konsumterror unserer Tage, dem er als „Konsumfaschismus“ ab 27. 5. in einem Bühnenbild des österreichischen Künstlers Gottfried Helnwein den (choreografischen) Prozess machen wird (Volksbühne: „Die 120 Tage von Sodom“, Uraufführung: 27. 5., 19.30 Uhr).

Während Kresnik mit Inbrunst und Genuss in fetten Bildern und wüsten Szenarien watet, ist der Choreograf Laurent Chétouane eher ein poetischer Analytiker. Am 21. Mai kommt sein neues Tanztheaterstück „Considering“ im HAU heraus – eine getanzte Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“, die die Frage nach Ursprung und Natur der menschlichen Grazie stellt, für Chétouane ein Schlüsseltext, den er nun erstmals auf die Bühne bringt (HAU: „Considering“, ab 21. 5., 19 Uhr).