Kolumne: Großes Fettnapfpotenzial

Die Kritik am "Popoposter" der Grünen war berechtigt und keine Zensur

Dem nordrheinwestfälischen Kaarst fehlt das glückliche Händchen. Zumindest fehlt es den Kaarster Grünen, die sich mit ihren diesjährigen Wahlkampfplakaten von einem Fauxpas zum nächsten hangeln. Auf einem von ihnen steht eine Frau auf einer Waage. Der Spruch dazu lautet: 51 wären ideal. Gemeint sind Prozente, zu assoziieren sind Kilo. Wir wollen hoffen, dass die Frau sehr klein ist, 51 sind ja doch recht wenig. Für eine erwachsene Frau zumindest, nicht aber für die Grünen, schon gar nicht für die in Kaarst, die dieses Jahr hoffentlich seltener denn sonst gewählt werden.

Ehe sie dieses Plakat veröffentlichten, warben sie nämlich mit jenem anderen, auf dem man einen wohlgeformten dunkelhäutigen Frauenhintern sah, umpackt von zwei weißhäutigen Händen. Der Spruch dazu: "Der einzige Grund, schwarz zu wählen." Das stimmt. Dieses Plakat der Grünen wäre für mich ein Grund, schwarz zu wählen, vor allem seitdem die CDU in Thüringen für ihren Kandidaten Zeca Schall in die Bresche gesprungen ist, als dieser von der NPD rassistisch angegangen wurde. Vielleicht wären auch die Kaarster Grünen als Unterstützer für Schall zu gewinnen, wenn er entsprechend gebaut ist, was auf dem Wahlplakat der CDU jedoch nicht zu sehen ist. Verkehrte Welt. CDU Thüringen sticht Grüne NRW.

Auf die zahlreichen kritischen Kommentare zum "Popoposter", wie sie es verniedlichend nennen, zogen die Kaarster Grünen das Plakat zurück. Und die Spitze der NRW-Grünen gab eine Erklärung ab, in der es unter anderem heißt: "Wenn sich Menschen durch die Bildsprache verletzt oder diskriminiert fühlen, nehmen wir das sehr ernst. Wir haben in den vergangenen Tagen intern über das Plakat und die Reaktionen darauf diskutiert und haben uns dafür ausgesprochen, das Plakat zu entfernen. Den Vorwurf des Rassismus und des Sexismus weisen wir entschieden zurück. Weder die NRW-Grünen noch die Kaarster Grünen denken oder handeln rassistisch oder sexistisch, sondern im Gegenteil …".

Danke, ihr lieben und guten NRW-Grünen, dass ihr so viel Mitgefühl für eure mimosenhaften Zeitgenossen zeigt! Im Ernst: Mit dieser Art der pseudohaften Anteilnahme und der tatsächlichen Zurückweisung der Verantwortung verspielt man seine Glaubwürdigkeit; vielleicht nicht, was Atommeiler, aber doch, was soziales Miteinander und Gleichberechtigung angeht. Nach einem solchen Fehler, für den es keine Entschuldigung gibt, könnte nur eins helfen: die uneingeschränkte Bitte um Entschuldigung. Stattdessen wiegeln die Sprecher gleich doppelt ab: In einem ersten Schritt wird der Einwand, etwas sei rassistisch, als subjektive Befindlichkeit irgendwelcher Betroffenen interpretiert und deren Kritik damit herabgewertet: Menschen FÜHLEN sich verletzt oder diskriminiert, sie WERDEN es vermeintlich nicht.

In einem zweiten Schritt wird die Kritik an einer spezifischen Handlung zu einer verallgemeinerten Kritik ausgewalzt - und damit die Beweislast für die Kritiker noch weiter vergrößert: "Weder die NRW-Grünen noch die Kaarster Grünen denken oder handeln rassistisch oder sexistisch …" Dass sie generell so handelten, hat niemand behauptet. In diesem Fall haben sie es aber nun mal getan.

Wie diverse Rassismustheoretiker gezeigt haben und wie zuletzt von der Stuttgarter Philosophin Elisabeth Conradi wunderbar klar herausgearbeitet wurde, gibt es objektive Kriterien, die es ermöglichen, Darstellungen, Äußerungen und Handlungen als rassistisch zu beurteilen. Weder die Intention des Handelnden ("So hab ich das nicht gemeint") ist dabei ausschlaggebend noch die subjektive Verletztheit des Adressaten. Dieser ist vielleicht an rassistische Verhältnisse gewöhnt, oder er versucht sich nicht beeinträchtigen zu lassen und daher die Wahlplakate am Straßenrand zu übersehen.

Kaum war die Kritik geäußert, fühlten sich allerdings die Kaarster Grünen an der Reihe, beleidigt zu sein. Das Fettnapfpotenzial ihres Heimatstädtchens (42.000 Einwohner, 37 Quadratkilometer) schonungslos ausreizend, nahmen sie ihr geliebtes Popoposter nicht einfach von der Homepage, sondern löschten zunächst nur das Motiv und montierten einen "Zensur"-Balken drauf. Als ob Bismarck das Plakat verboten hätte!

Dabei handelte es sich doch um von gleich zu gleich vorgetragene, inhaltliche Kritik, zumeist sogar aus den eigenen Reihen. Solche Kritik zu äußern und gegebenenfalls darauf zu reagieren gehört zu den entscheidenden Mechanismen der demokratischen Öffentlichkeit - und gerade nicht zum Instrumentarium eines autoritären Staates und der Zensur.

So drastisch die Grünen sich hier vertan haben: Die beschriebenen Reaktionsweisen sind unter Linken leider nicht wenig verbreitet. Insbesondere das Wort "Zensur" wird inflationär verwendet, um zu rechtfertigen, warum man lieber KEINE Maßnahmen zum Eindämmen von Rassismus und Sexismus ergreift. Zensur ist es angeblich, wenn auf linken Internetforen rassistische Beiträge unterbunden würden (dabei hat längst jede Website eine Netiquette, deren Minimalanforderungen jeder Beitrag erfüllen muss). Von "Zensur" wird auch gesprochen, wenn es um strafrechtlich wohl erwogene, demokratisch legitimierte Verbote rechter Internetseiten geht. Im Internet müsse alles "frei" geäußert werden dürfen - was für ein sonderbarer, rein negativer Freiheitsbegriff!

Wenn Nazis in den Städten demonstrieren, rufen wir doch auch zu Gegendemos auf - warum also machen wir ihnen im Internet freiwillig Platz? Und warum soll es Zensur sein, wenn ein potenziell Geschädigter (eine Frau, ein Afrodeutscher) die Staatsgewalt um Hilfe ruft? Der Anti-Etatismus vieler klassischer Linker in allen Ehren - aber das bedeutet nicht, dass der Staat nicht auch einmal uns unterstützen könnte. Es gibt Gesetze, die die Meinungsfreiheit schützen - und sie da begrenzen, wo die Menschenwürde eklatant verletzt wird. Den öffentlichen Raum, Straßen und Plätze, Zeitungen und Internet großzügig den Rechten darzubieten, bloß um selbst nicht in den Verdacht des Ausübens von "Zensur" zu gelangen - das ist ein Luxus, den man gegenüber den Opfern der Rechten wohl kaum vertreten kann.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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