Kolumne Klatsch: Zwischen Mitternacht und 6 Uhr früh

Darin zeigt sich das Elend unserer Epoche: Väter haben keine Zeit mehr, vor Weihnachten eine Eisenbahn aufzubauen.

An Weihnachten war früher Weihnachten. Und Weihnachten begann bereits drei Wochen vor dem 24. Dezember, wenn es abends an der Türe klingelte und wir Kinder ins Wohnzimmer eingesperrt wurden. Draußen im Flur rumpelte es dann eine Weile, bis mein Vater und Onkel Walter die einzelnen Platten der Märklin-Eisenbahn vom Dach des Volkswagen abgeladen und in den Hobbykeller getragen hatten. Dort wurden sie in den darauffolgenden Tagen von Onkel Walter zusammengebaut und schließlich bis zum Abend des 24. Dezember mit einem weißen Leintuch verhüllt.

Es war jedes Jahr dieselbe Anlage, und doch hatte Onkel Walter sich immer eine neue Kleinigkeit einfallen lassen. Mal kam ein neuer Berg mit Burgruine hinzu, mal ein weiteres Abstellgleis mit automatischer Waggon-Entkupplung. Weihnachten, das war für mich nicht der Christbaum, waren auch nicht die Plätzchen und das Liedersingen. Erst wenn alles vorbei war, die Geschenke ausgepackt und die Weihnachtsgeschichte verlesen war, dann begann mein Weihnachten: Dann, wenn für die anderen alles vorbei war und ich hinunter in den Hobbyraum zur Märklin-Eisenbahn durfte. In meiner Erinnerung habe ich in diesen Nächten nach Weihnachten nicht mehr geschlafen: Ich ließ stundenlang die Züge fahren, schaltete Lichter und Weichen und war wahrscheinlich der glücklichste Junge der Welt.

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit saß ich im Büro des neuen Managers der Firma Märklin in Göppingen, und er erzählte mir, wie er versuchen werde, das marode Unternehmen wieder auf Vordermann zu bringen. Neue Produktlinien, modernes Marketing, bessere Vertriebswege. Der Mann hatte das ganze Vokabular eines Chief Executive Officer (Chef) auf der Pfanne, nur eines wusste er auch nicht: Wie er den heutigen Familienvätern ihre gestohlene Zeit zurückgeben konnte, um am Abend und am Wochenende ihren Kindern eine Märklin-Eisenbahn aufzubauen.

Nach jenem Gespräch im Büro des Märklin-Chefs fühlte ich mich schuldig. Mein Sohn wurde bald zehn, und noch nie hatte ich ihm eine Eisenbahn aufgebaut. Ich meine eine richtige Bahn. Mit Landschaft, Brücken und Tunnels und automatischer Waggon-Entkupplungsanlage. Wann hätte ich es auch tun sollen? Irgendwann zwischen Mitternacht und sechs Uhr in der Früh? "Du bist es ihm schuldig!", rief es in mir immer lauter, "und deinem Onkel Walter auch!"

Tatsächlich stand ich einige Tage später bei Onkel Walter auf dem Dachboden und wir suchten, was wir von der alten Märklin-Eisenbahn noch in verstaubten Schachteln fanden. Es war nicht mehr allzu viel. Doch in den Wochen danach klingelte oft der Kurierdienst an unserer Wohnung und betrachte wieder zwei einzelne Schienen, eine Lokomotive, einen Güterwagen oder den Bahnhof von "Neukirch" - Dinge, die ich alle zwischen Mitternacht und sechs Uhr früh im Internet ersteigert hatte. Auf einer aufgebockten Holzplatte neben meinem Schreibtisch wuchs "Neukirch " allmählich zu einer kleinen Stadt heran. Erst fuhr nur eine Lokomotive im Kreis herum. Doch schon bald hatte ich, anstatt zu arbeiten, den ganzen Nachmittag neue Schienen verlegt, die erste Platte um eine zweite Platte erweitert und neben "Neukirch" war schließlich ein zweiter Ort, "Friedrichshöhe", ebenfalls mit Bahnhof und beleuchteter Innenstadt, entstanden. Meinen Auftraggebern, die mich nun immer häufiger telefonisch nach dem Verbleib ihrer bestellten Artikel fragten, erzählte ich etwas von Noroviren. Tatsächlich aber lag ich unter "Neukirch " und "Friedrichshöhe", lötete Kabel zusammen und verlängerte ein weiteres Mal die Platte.

Noch drei Tage bis Weihnachten! Bis auf einen letzten Gleisabschnitt ist die Anlage fertig. Fast fertig, kann man sagen. Es gibt keine fertigen Modelleisenbahnanlagen, habe ich mir sagen lassen. Immer muss hier noch eine Weiche eingebaut oder ein Kirchturm hell erleuchtet werden. Ich habe inzwischen leise Zweifel, ob ich nach Weihnachten je wieder in mein altes Leben zurückfinde.

Fragen zu Märklin? kolumne@taz.de Donnerstag: Dieter Baumann über das LAUFEN

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