Debatte FDP und Hartz IV: Angriff aus Verzweiflung

Mit seinen Tiraden gegen den Sozialstaat schadet Westerwelle sich selbst. Der Debatte um die Höhe der Hartz-IV-Regelsätze fügt er nichts Neues hinzu.

Weiß Guido Westerwelle, was er tut? Diese Frage drängt sich derzeit mit besonderer Wucht auf. Der FDP-Vorsitzende und Bundesaußenminister will alles zugleich sein: ausgleichender Interessenvertreter Deutschlands im Ausland, Architekt auf den innenpolitischen Großbaustellen der Republik und krawalliger Oppositionsführer. Damit übernimmt sich Westerwelle. Seine jüngste Polemik gegen die angebliche Verhätschelung von Hartz-IV-Beziehern mag dem politischen Kalkül entspringen, so dem Sinken von Umfragewerten zu begegnen. Aber anders als im Bundestagswahlkampf wird Westerwelles Rechnung diesmal nicht aufgehen.

Westerwelle setzt auf eine ihm wohlbekannte Marketingweisheit: Es ist egal, wenn 85 Prozent der Menschen mein Produkt nicht kaufen, solange ich die restlichen 15 Prozent dazu bringe, es zu tun. Die Strategie heißt Polarisierung. Ihr verdankt die FDP - wie auch die Linke - ihr gutes Abschneiden bei der Bundestagswahl. Auch jetzt hofft der Taktierer darauf, dass sein Plan aufgeht. Doch groteskerweise hat er das Offensichtliche nicht einkalkuliert - nämlich dass Fundamentalopposition nur in der Opposition funktioniert. In der Regierung kann er sich nicht darauf beschränken, in schrillem Ton zu erklären, wer arbeite, dürfe nicht "zum Deppen der Nation" werden. Westerwelles FDP müsste auch benennen, was das, in Gesetzentwürfe und konkrete Politik übersetzt, denn heißen soll. Doch dazu ist die FDP weder bereit noch in der Lage.

Bereit ist sie dazu nicht, weil es Westerwelle gar nicht um einen "völligen Neuanfang in unserem Sozialstaat" geht. Die FDP hat, bei aller Polemik, bislang keinen konkreten Vorschlag gemacht, die Hartz-IV-Leistungen zu kürzen. Im Gegenteil: Das einzige Mal, dass die FDP sich in dieser Debatte merklich zu Wort meldete, war mit ihrer Wahlkampfforderung nach Verdreifachung des Schonvermögens für Hartz-IV-Empfänger auf 750 Euro pro Lebensjahr. Diese vergleichsweise günstig zu habende Maßnahme hat die Koalition auch zügig umgesetzt.

Die FDP wird immer sechs bis acht Prozent der Wähler, die sich selbst als "Deppen der Nation" fühlen, an die Urne bringen. Auch mögen führende Parteimitglieder recht haben mit der Behauptung, bis zu einem Drittel der Wähler stimmten Westerwelles Sozialstaatsschmähungen insgeheim zu. Doch klar ist, dass die FDP als Regierungspartei diesen Unmut nicht in Politik umsetzen kann. Sollte Westerwelle seine Polemik fortsetzen, wird er sich an der Union die Zähne ausbeißen. Angela Merkel hat schon ganz andere Politikerkaliber ausgesessen und ins Abseits gestellt. Und eine Union, die sich als Volkspartei der Mitte versteht, kann es sich nicht erlauben, die Eskapaden ihres Regierungspartners auf die Dauer mitzutragen. Sie hat auch andere Optionen. Die FDP dagegen ist von ihrem derzeit einzigen möglichen Partner abhängig.

Die Kellnerin mit zwei Kindern

Westerwelle wird es auch nicht gelingen, auf diese Weise Wählerinnen und Wähler der sogenannten unteren Mittelschicht anzusprechen. Zwar zieht er häufig das Beispiel einer verheirateten Kellnerin mit zwei Kindern heran, die trotz Arbeit weniger Geld verdiene, als sie mit Hartz IV bekäme. Doch dieses Anbiedern an eine um ihren Status fürchtende Mittelschicht wirkt unglaubwürdig. Zu fest gefügt ist das Bild der FDP als Klientelpartei der Besserverdienenden, das obendrein durch das teure Steuergeschenk für Hoteliers und Millionenspenden von Milliardären erst bekräftigt wurde.

Westerwelles verbale Raserei fügt der Debatte über die Höhe der Hartz-IV-Leistungen inhaltlich nichts Neues hinzu. Es sei denn, man hat den Eindruck, Missgunst gegenüber sozial Schwachen und die Beschwörung von Abstiegsängsten der Mittelschicht seien in dieser Diskussion noch zu kurz gekommen. Mehr bietet Westerwelle nicht - und mehr will er auch nicht bieten. Die Generaldebatte im Bundestag, die er nun fordert, wird sich sicher nicht um sperrige Details wie Durchführungsbestimmungen und Neuberechnung von Regelsätzen drehen. Alle Seiten werden sie selbstverständlich dazu nutzen, ihre altbekannten Positionen auszutauschen und sich gegenseitig des Verrats am "kleinen Mann" zu zeihen.

Westerwelle kommt das entgegen. Seit seinen politischen Anfängen ging es ihm nie um politische Inhalte. Selbst seine omnipräsente Forderung nach Steuersenkungen ist im Kern nur ein Ersatz für Programmatik. Denn sie degradiert jeden politische Sachverhalt auf die Frage nach Euro und Cent. So lassen sich keine Fragen nach sozialer Gerechtigkeit beantworten.

Floskeln statt Führung

Dass Westerwelle auf seinen Äußerungen beharrt, ist nicht notwendigerweise ein Nachweis dessen, dass sich die allgemeine Haltung gegenüber Empfängern von Sozialleistungen verschärft. Leute, die Hartz IV als Festmahl für Schmarotzer ansehen, hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Erstaunlich ist nur, wie offen der FDP-Chef um diese buhlt. Das spricht für ein gewisses Maß an Verzweiflung. Auf sinkende Umfragewerte, schlechte Ministerkritiken und das Fehlen von Konzepten weiß Westerwelle nur eine Antwort: Angriff.

Doch zum ersten Mal seit seinem Machtkampf mit Jürgen Möllemann im Jahr 2002 sieht der Allgegenwärtige seine Führung infrage gestellt. Andreas Pinkwart, der FDP-Wahlkämpfer in Nordrhein-Westfalen, spricht nur aus, was viele Parteifunktionäre denken: Sie wollen nicht auf Gedeih und Verderb auf ihren Frontmann angewiesen sein. In der Opposition mag es richtig sein, sich der eigenen Wiedererkennbarkeit wegen auf ein Gesicht und ein Thema zu konzentrieren. In der Regierung dagegen ist es nötig, die Macht auf mehrere Schultern zu verteilen um sie zu sichern.

Lässt die FDP es zu, sich von ihrem Chef zu einer Art Oppositionspartei mit Ministerämtern formen zu lassen? Oder emanzipiert sie sich endlich zu einer richtigen Partei, die nicht nur Floskeln, sondern auch eine Vielfalt von Themen und Köpfen anzubieten hat? Westerwelles Tiraden gegen Hartz IV werden nicht das Ende des Sozialstaats einleiten. Aber sie könnten zur dauerhaften Schwächung seines lautesten Kritikers führen. MATTHIAS LOHRE

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Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wird von der Kritik gefeiert.

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