Debatte Stuttgart 21: Das Labor von Stuttgart

Die Regierungen und Parlamente müssen lernen, dass sie nicht immer das letzte Wort haben. Der Weg führt von der Zuschauer- zur Teilhabedemokratie.

Auch die "Stuttgart 21"-Befürworter haben die Straße als Forum entdeckt: Bahnchef Rüdiger Grube am Samstag auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Bild: dpa

Im Konflikt um Stuttgart 21 wird eine zentrale Frage unserer Verfassung neu verhandelt: die Spannung zwischen repräsentativer Demokratie und Bürgerprotest. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", sagt das Grundgesetz. Aber was, wenn die Staatsmacht gegen den Willen eines Großteils der Bürgerschaft steht?

Der brachiale Polizeieinsatz vom 30. September war ein Wendepunkt: Statt ihre Autorität gewaltsam durchzusetzen, setzte sich die Landesregierung vollends ins Unrecht. In einer modernen Demokratie reicht es eben nicht aus, wenn die Regierung über eine parlamentarische Mehrheit plus Polizeihundertschaften verfügt, um die Anerkennung ihrer Entscheidungen zu erzwingen.

"Der Widerstand gegen eine demokratisch getroffene Entscheidung ist undemokratisch" - dieses Verdikt verkürzt die Volkssouveränität darauf, die politische Macht an gewählte Repräsentanten zu delegieren, die fortan die alleinige Entscheidungsgewalt innehaben. Nach dieser Logik ist demokratisch, was von gewählten Mehrheiten beschlossen wurde, basta.

Wir leben aber nicht mehr in einer Basta-Demokratie, den 68ern sei Dank. Die Leute nehmen die Sonntagsreden vom mündigen Bürger ernst. Sie geben sich nicht mehr damit zufrieden, alle paar Jahre die Inhaber der politischen Gewalt zu wählen. Wer gewählt wird, hat ein politisches Mandat, aber keinen Blankoscheck.

Preis der Sturheit

Es zeichnet eine lebendige Demokratie aus, dass Legitimation nicht nur über Verfahren entsteht, sondern einer kritischen Öffentlichkeit standhalten muss. Die Bürger beanspruchen inzwischen ein Vetorecht gegen Beschlüsse der politischen Gremien.

Die geregelte Form dieses Vetos ist der Volksentscheid, mit dem parlamentarische Mehrheiten ausgehebelt werden können. Das haben wir gerade in Hamburg erlebt. Die ungeregelte Form ist der außerparlamentarische Protest. Wenn er genügend Rückhalt in der Gesellschaft hat, kommt die Regierung in ein Dilemma: Entweder sie bläst rechtzeitig zum Rückzug oder sie zahlt bei der nächsten Wahl einen hohen Preis für ihre Sturheit.

Die Frage, wo politisches Stehvermögen in Arroganz umschlägt, hängt an vielen Faktoren: an der Glaubwürdigkeit, mit denen eine Regierung ihre Sache vertritt, an der Stichhaltigkeit ihrer Argumente und ihrer Dialogfähigkeit mit den Kritikern. Es gibt Entscheidungen, für die eine parlamentarische Mehrheit ihre Abwahl riskieren muss, und es gibt Situationen, bei denen Sturheit zur Torheit wird.

Das ist regelmäßig der Fall, wenn eine einmal eingeschlagene Politik durch völlig veränderte Umstände überholt wird. So ist es der FDP mit ihrem Steuersenkungsmantra ergangen. So geht es auch den Betreibern von Stuttgart 21, einem Projekt, das finanziell wie verkehrspolitisch aus der Zeit gefallen ist. Wenn vierzigtausend Menschen in Stuttgart "Lügenpack" rufen und damit die gewählten Repräsentanten der Stadt und des Landes meinen, ist etwas faul im Staate Dänemark.

Arroganz der Macht

Es beschädigt die Demokratie, wenn sich im Volk der Eindruck verfestigt, dass politisches Engagement gegen die Arroganz der Macht keine Chance hat. Wenn Regierungen sich verrannt haben, zeigt sich politische Weisheit in der Kunst des Rückzugs.

Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht hatte das begriffen, als er den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben für "politisch nicht durchsetzbar" erklärte. Er entschied sich dafür, den Landfrieden wiederherzustellen - ein altertümlicher, aber hoch aktueller Begriff. Der Landfrieden kann nämlich nicht nur von protestierenden Bürgern gebrochen werden, sondern auch von Regierungen.

Die Bewegung gegen Stuttgart 21 wirkt als Vitaminstoß für die Demokratie. Sie ermutigt, sich einzumischen, Partei zu ergreifen, Bürgerrechte wahrzunehmen, auf die Veränderbarkeit der Politik zu setzen. All das ist ein Gegengift zur schleichenden Erosion der Demokratie, zur Abwendung der Bürger von den Institutionen, zum Legitimationsverlust von Parlamenten und Regierungen.

Genau diese Tendenzen beschrieb der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch mit dem Begriff der "Postdemokratie": Die demokratischen Institutionen bleiben bestehen, aber hinter den Fassaden bröckelt die Substanz, die Distanz zwischen politischer Klasse und Gesellschaft wächst, die Demokratie wird zu einer bloßen Formsache.

Die Zweifel wachsen, ob Parteien, Parlamente und Regierungen in der Lage sind, zukunftsverantwortliche Politik zu betreiben statt bloß auf die nächste Wahl zu schielen. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass die Parteienkonkurrenz um Wählerstimmen eine Tendenz erzeugt, das langfristig Notwendige auf dem Altar kurzfristiger Vorteile zu opfern. Stimmenfang durch fahrlässige Versprechen, Flucht in die Staatsverschuldung, populistische Demagogie sind Gebrechen des parteipolitischen Betriebs, die wir nur allzu gut kennen. Gleiches gilt für den Einfluss finanzstarker Lobbys auf die Gesetzgebung.

Wenn staatliche Politik als verlängerter Arm von Konzern- oder Verbandsinteressen erscheint, sät sie Misstrauen und Verachtung.

Legitimes Korrektiv

Die Zustimmung zur Demokratie ist nicht für alle Zeit garantiert. Sie muss in jeder Generation erneuert werden. Die Republik schaut auf Stuttgart, weil dort erprobt wird, wie das gehen kann. Der Weg führt von der Zuschauer- zur Teilhabedemokratie.

Verwaltungen müssen lernen, Eigensinn und Sachkompetenz der Bürger nicht als Störfaktor, sondern als produktive Kraft zu begreifen. Regierungen und Parlamente müssen lernen, dass sie nicht immer das letzte Wort haben. Man muss nur das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beim Wort nehmen: Das Volk übt seine souveräne politische Macht in Wahlen und Abstimmungen aus. In Bürgerentscheiden und Volksabstimmungen liegt gewiss keine höhere Weisheit. Aber sie sind ein legitimes Korrektiv, wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung in der Politik ihrer Repräsentanten nicht mehr wiederfindet. Und sie können den Weg aus einer politischen Sackgasse weisen - wie jetzt in Baden-Württemberg.

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