Debatte Russlanddeutsche: Deutscher als die Deutschen?

Die meisten Zuwanderer sind heute Russlanddeutsche, aber sie sind fast unsichtbar. Auch wenn eine neue Studie anderes sagt: Ihre Integration ist längst nicht gelungen.

"Integration" ist eines der Modeworte unserer Zeit. Selbst die Bundeskanzlerin hat das Thema zur "Top-Priorität" erklärt. Deshalb gibt es für fast alle Zuwanderergruppen Pläne und wohl klingende Strategien, wie ihre Integration voranzutreiben sei. Nur von der zuletzt größten Zuwanderergruppe, den Russlanddeutschen, ist dabei meist nur am Rande die Rede. Und auch wenn ihnen eine aktuelle Studie attestiert, sie seien überwiegend gut integriert, so trifft das auf die meisten nur zum Teil zu - und für ihre Kinder noch weniger.

Mehr als 2,5 Millionen Menschen sind allein seit dem Fall des Eisernen Vorhangs aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Anfangs erschien ihre Integration wie etwas, das sich mit der Zeit von selbst regeln würde. Schließlich waren sie ja Deutsche, wie die Regierung Kohl den Bundesbürgern beteuerte. Doch viele der Aus- und insbesondere der Spätaussiedler waren nur im juristischen Sinn Deutsche. Mental waren sie Zuwanderer, die auf ein Land trafen, das nur wenig mit der erträumten Heimat zu tun hatte, von der ihre Eltern und Großeltern ihnen erzählt hatten - und die diese oft selbst nur aus Erzählungen kannten. Das, was sie für "deutsche Sitten und Gebräuche" hielten, stammte aus einer anderen Zeit, einer anderen Gesellschaft, die wenig mit der Multioptionsgesellschaft der pluralistischen Bundesrepublik zu tun hatte. Eine bittere Ironie - das, was die Neuankömmlinge aus der ehemaligen Sowjetunion für besonders "deutsch" hielten, hob sie von den Einheimischen ab. Für die waren sie schlicht die "Russen", die sie in der Sowjetunion nicht sein durften.

Öffentlich wahrgenommen wurden diese "Russen" erst, als sich immer mehr Jugendliche mit einem gewissen Stolz selbst als "Russen" zu bezeichnen begannen und Lehrer und Polizisten eine "zunehmende Gewaltbereitschaft" unter ihnen beklagten. Polizisten konstatierten, sie seien machtlos gegen die "Bandenstrukturen der Russen", und Gemeinden mahnten, dass sie nicht noch mehr Sozialleistungsempfänger verkraften könnten. Die Politik reagierte: mit neuen Gesetzen, die den Zuzug von weiteren Russlanddeutschen erheblich erschwerten. Das verstärkte bei vielen, die bereits hier lebten, das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Ihre Klagen, dass dadurch Familien auseinandergerissen werden, verhallten ungehört. Es gab ja keine Journalisten, die sich des Themas annahmen - ebenso wenig, wie über die Folgen für das Heer der Lehrerinnen berichtet wurde, die sich als Putzfrauen verdingen mussten, und die Ingenieure, die sich in den Arbeitsämtern drängten, weil ihre russischen Hochschuldiplome und Berufsausbildungen nicht anerkannt wurden.

Russlanddeutsche scheinen in Deutschland keine Lobby zu haben - nicht einmal bei den Parteien, die sich sonst so fleißig für die Rechte von Zuwanderern einsetzen. Das hängt insbesondere mit dem immer noch vorherrschenden Bild von ihnen zusammen: dem der rechten Deutschtümler. Ein Bild, an deren Entstehung die einzige öffentlichkeitswirksame Interessenvertretung, die "Landsmannschaft der Deutschen aus Russland", nicht ganz unschuldig ist. Sie repräsentiert allerdings auch nur einen Teil der Russlanddeutschen, die längst keine homogene Gruppe mehr bilden.

Diese Interessenvertretung bedient sich leider gerne einer Rhetorik, die insbesondere im linken Bürgertum auf Abwehr stößt: In ihren Pressemitteilungen und Verlautbarungen taucht allzu oft das Wort "Stolz" auf: der Stolz, Deutsche zu sein. Und wenn in der Tagesschau wieder einmal über Krisenängste, Wiedergutmachung für die Opfer des Holocaust, Scham und Depression die Rede ist, heißt es, die Einheimischen hingen zu viel an der Vergangenheit und würden Deutschland schlechtreden. Dass genau diese Rhetorik das Bild von Russlanddeutschen als Ewiggestrigen verfestigen half, hat vor allem mit der deutschen Geschichte zu tun - genauer gesagt: mit der Unkenntnis der Geschichte der Deutschen im Osten. Einer Geschichte, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart hineinreichen - und die auch dazu beigetragen hat, dass die meisten Einheimischen heute Schwierigkeiten mit der Frage haben, wer oder was eigentlich deutsch sei. Eine Frage, die aber eng verbunden ist mit der Frage, wie Russlanddeutsche zu integrieren seien.

Vielleicht bedarf es daher eines neuen Diskurses, fernab von linken oder rechten Zuschreibungen, vielleicht aber würde es schon genügen, mehr Interesse an der Geschichte der Deutschen aus Russland zu wecken. Dann würde die landsmannschaftliche Rhetorik vielleicht auch als ein - ungeschickter, unsensibler - Versuch aufgenommen, Anerkennung zu finden, Identität, eine Heimat nach den Jahren der Verbannung. Zum gegenseitigen Verständnis beitragen könnten russlanddeutsche "Lotsen", die helfen, den Kosmos der Nachbarn kennen zu lernen. Sozialverbände, Schulen, Verwaltung, Polizei und Strafvollzug müssten mehr Russlanddeutsche an den entsprechenden Nahtstellen einstellen. Und auch die Anerkennung von (russischen) Schul-, Berufs- und Hochschulabschlüssen sollte endlich erleichtert werden.

Es bräuchte aber auch mehr Einheimische, die bereit sind, sich mit russlanddeutschen Lebenswelten und Erfahrungen auseinanderzusetzen - und ihre eigenen an sie weiterzugeben: Ehrenamtliche wie den Vorstand eines kleinstädtischen Fußballvereins, der Väter aus dem benachbarten "Russenghetto" gezielt als Jugendtrainer und ihre Söhne als Spieler anwarb und sie bei der Lehrstellensuche oder auf dem Weg zu einer Profikarriere unterstützte. Oder wie den Direktor einer süddeutschen Jugendstrafanstalt, der seine Mitarbeiter nach Russland schickte, um dort die Verhältnisse in Polizei und Gefängnissen kennen zu lernen. Nun entwickelt er mit den Jugendlichen spezielle Strategien, wie sie aus ihren strengen Zwangscliquen-Hierarchien ausbrechen können, in die sich viele hineingezwungen sehen.

Bedenkenswert wäre auch der Einsatz von Mentoren, die neu zugewanderte Familien durch den Alltag begleiten, wie das eine ehrenamtliche Initiative in Berlin bereits erfolgreich vormacht. Für all das ist nicht unbedingt ein Mehr an gesetzlich verordneten Maßnahmen oder karikativen Initiativen erforderlich. Denn die verströmen leider allzu oft den Eindruck der Pflichtschuldigkeit - und verstärken eher das Gefühl der Trennung in ein "Wir, die gebenden Einheimischen" und ein "Ihr, die bedürftigen Zuwanderer".

Integration leidet in Deutschland nicht in erster Linie an einem Mangel an Angeboten - und erst recht nicht an zu wenig Regeln und Gesetzen. Sondern vor allem an einer fehlenden Vorstellung davon, wie das gemeinsame Zusammenleben aussehen könnte - einem Leitbild, das dem Rückzug in Parallelgesellschaften entgegenwirken könnte. Integration, das bedeutet nicht zuletzt, ein Bedürfnis zu überwinden, das der Soziologe Richard Sennet als "jedem Menschen innewohnend" beschrieben hat: "People want to live with people like them."

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