Debatte Völkerrecht: Die Büchse der Pandora

Das UN-Verfahren zwingt zu einem Minimalkonsens. Forderungen nach Bodentruppen in Libyen oder Bewaffnung der Rebellen ignorieren die Institutionen des Völkerrechts.

Wie aus dem Gebot, die Menschenrechte zu schützen, im Nullkommanichts ein Weltkriegsprogramm werden kann, zeigt Philip von der Meden. Letztlich fordert der Autor nichts anderes als die Abschaffung der Staatensouveränität. Die internationale Gemeinschaft müsse bei der Verletzung zentraler Menschenrechte intervenieren.

Als Gegner einer verantwortungsvollen Menschenrechtspolitik wird Immanuel Kant ausgemacht, dessen künstlicher Begriff des Staates als Rechtsperson den globalen Defätismus befördert habe: "Das Unglück der anderen soll uns seit der Aufklärung von Rechts wegen nicht mehr interessieren."

Nun kann man Kants Rechtspazifismus vieles vorwerfen, aber eines sicher nicht: Kant opfert die Menschenrechte gerade nicht auf dem Altar der Staatensouveränität. Sein berühmter Satz in der Friedensschrift, "dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird", ist Ausdruck einer globalen Solidarität, die ihre Aufgabe im Schutz der Menschenrechte sieht. Kant zerschlägt geradezu den Panzer nationaler Souveränität, seine Waffe ist dabei das Schwert des Weltrechts.

Einen Bypass zur UNO legen

Anders als jene Verfechter der Menschenrechte, die heute dafür streiten, dass man diese notfalls auch ohne UN-Mandat und mit militärischer Gewalt durchsetzen müsse, insistierte Kant einst zu Recht darauf, dass das Militär ungeeignet sei, einen globalen Friedenszustand zu befördern.

Stattdessen müsse man die Weltgesellschaft in einen "rechtlichen Zustand" überführen, in dem kriegerische Interventionen auch dann verboten bleiben, wenn die souveränen (sic!) Staaten, die die Chronisten der Macht als Imperien zelebrieren, ihr militärisches Potenzial zum Einsatz bringen möchten.

Wenn man diese pazifistische Grundüberzeugung und das geltende Gewaltverbot zwischen den Staaten nun gegen den Schutz von Menschenrechten ausspielt, lässt sich damit fast jede unilaterale Gewalt rechtfertigen. Das aber öffnet die Büchse der Pandora und legt einen folgenreichen Bypass zu dem Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen.

Die UN sind für vieles zu kritisieren. Die Rechtskontrolle durch den Internationalen Gerichtshof ist unzureichend. Die Aufgabenteilung in den Vereinten Nationen ist undemokratisch, die Mitentscheidungsrechte der Generalversammlung und der transnationalen Zivilgesellschaft sind viel zu gering. Zu Recht sprechen Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler deshalb von einem partialabsolutistischen System.

Was Resolution 1973 verlangt

Die Verteidigung der Menschenrechte kann freilich nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag einer UN-Reform warten. Dass in Libyen gehandelt werden muss, ist offenkundig. Die sozioökonomische Situation muss verbessert, Zukunftsperspektiven müssen geschaffen werden. Aber es muss eben auch sichergestellt werden, dass diese Maßnahmen in einem Umfeld stattfinden, in dem es keine Übergriffe auf die Zivilbevölkerung gibt.

Der UN-Sicherheitsrat hat daher die Resolution 1973 erlassen - eine völkerrechtlich zulässige Intervention, weil der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der UN-Charta handeln durfte. Schon 1994 verfuhr der Sicherheitsrat im Fall Haitis ähnlich: Die Völkerrechtspraxis hat es als zulässige Fortentwicklung der Charta gelten lassen, dass auch innerstaatliche Konflikte eine Intervention der UN zur Folge haben können.

Die Resolution weist nun aber eine entscheidende Begrenzung auf: Sie erlaubt den Einsatz militärischer Gewalt nur, um "Zivilisten und von Zivilisten bewohnte Gebiete zu schonen". Konsequenterweise gestattet sie weder den Einsatz von Bodentruppen noch die Bewaffnung von Rebellen. Man mag gerade den Verzicht auf Bodentruppen als zu kurz gegriffen kritisieren.

Dann muss man auf eine neue UN-Resolution hinwirken. Dabei sollte man aber bedenken, dass Versuche der Demokratisierung durch Regimewechsel von außen immer wieder grandios gescheitert sind - zuletzt etwa in Afghanistan - und dass militärische Maßnahmen zur Verteidigung der Menschenrechte nicht selten selbst Menschenrechte gefährden.

Im Fall Libyens tritt noch ein postkolonialer Einwand hinzu: Die vermeintlich altruistische Intervention zielt zugleich auf eine egoistisch motivierte Ordnungsbildung. Um die europäischen Grenzen zu sichern und Migrationsbewegungen abzuwenden, werden die alten postkolonialen Beziehungsmuster pragmatisch auf neue Netzwerke umgestellt. Europa macht den alten, jahrzehntelang geförderten Machthabern den Prozess - und den neuen Kräften den Hof.

Menschenrechtsimperialismus

Wenn man trotz dieser Einwände einen rechtspolitischen Weltkonsens erzielen möchte, um im Fall Libyens den unsicheren Pfad zu beschreiten, mittels einer militärischen Intervention die Menschenrechte zu garantieren, verbieten sich nationalstaatliche Alleingänge. Es gilt vielmehr, in den existierenden Institutionen der Weltgesellschaft einen Konsens für eine breit getragene Transformationsstrategie zu erarbeiten.

Bei aller Kritik am System der Vereinten Nationen ist genau das nun seine Leistung: Ein multilaterales Entscheidungsverfahren ist im Vergleich zu unilateralem Vorgehen das geringere Übel. Das UN-Verfahren zwingt letztlich zu einem Minimalkonsens im Sicherheitsrat und berechtigt seine ständigen Mitglieder zum Veto. Diese Prozedur muss weiter demokratisiert und juridifiziert werden - sie ist aber allemal besser als ein Verfahren, das die Entscheidung über Krieg und Frieden unilateral einzelnen Nationalstaaten überlässt.

Wer stattdessen versucht, die Institutionen des Völkerrechts zu umgehen, legitimiert nur das Recht des Stärkeren. Eine Entrechtlichung der internationalen Beziehungen wäre die Folge. Der Kerngedanke der Aufklärung, dass Menschenrechte Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe darstellen, wird dann in sein Gegenteil verkehrt. Ein so verstandener transnationaler Menschenrechtsimperialismus pfeift aufs Weltrecht. Er wäre die Fortsetzung der Politik mit anderen, rein militärischen Mitteln.

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