Contra-Kommentar Kindercheck-Zwang: Die Debatte ist nervtötend

Ein paar Ministerpräsidenten behaupten, mit Zwangsuntersuchungen das Kindersterben entscheidend eindämmen zu können. Sie wiegen die Bürger in einer falschen Sicherheit.

Wie lange muss es noch dauern? Und wie viele Kinder müssen noch sterben, ehe die quälende Debatte über staatlich kontrollierte Kinderchecks ein Ende hat? Der Ablauf ist immer der gleiche: Irgendwo verhungert ein Säugling oder wird ein Kind erschlagen. Es dauert meist nur wenige Stunden, und schon hängt die Debatte wieder am selben Punkt: Sollen die Vorsorgeuntersuchungen, besser bekannt als U 1 bis U 9, künftig vom Staatskommissar überwacht werden? Minister A sagt Ja, Minister B sagt Nee. Wenns gut läuft, setzt ein/e Bundeskanzler/in das Thema auf die Tagesordnung - so wie heute beim Kindergipfel. Mehr als föderales Gezänk ist auf diesem Gipfel der Verantwortungslosigkeit allerdings nicht zu erwarten. Denn die Kindsverwahrlosung hat hierzulande System, mit staatlichen Geprotze ist ihr nicht beizukommen.

Zu den Untersuchungen U 1 bis U 6 soll ein Arzt die Kleinkinder im ersten Lebensjahr auf ihren Entwicklungsstand testen. Aber von der U 6 bis zur U 9 tun sich gewaltige Lücken von ein- bis zweieinhalb Jahren auf - genug Zeit, damit Karolina (3 Jahre), Dennis (6), Michelle (2), Jessica (7) sterben konnten. Ohne dass es ein Amtsarzt hätte merken müssen. Wer genau hinsieht, weiß, dass selbst im ersten engmaschig getesteten Jahr genug Zeit ist, um zwischen den Us zu sterben. U 1 findet nach der Geburt statt, U 2 zehn Tage danach, U 3 spätestens in der sechsten Lebenswoche, U 4 bis zum fünften Monat, U 5 bis zum siebten Monat, U 6 bis zum zwölften Monat. Zu große Abstände, zu viel Zeit, um Leon Sebastian in Sömmerda zu retten (zehn Monate, verdurstet) oder André aus Iserlohn eine Chance auf Leben zu geben (drei Monate, unterernährt) - von den erschlagenen Kindern gar nicht zu reden. Nicht umsonst wird davor gewarnt, sich auf die Zwangs-Us zu verlassen.

Das soll nicht heißen, dass die besser beobachtete Reihenuntersuchung nicht eine Methode sein kann. Aber eben nur eine in einem Bündel von Maßnahmen, das nötig ist, das Sterben in deutschen Kinderzimmern zu erschweren. Staat und Gesellschaft müssen endlich aufhören, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Sie sind beide verantwortlich, aber sie nehmen ihre Verantwortung nur ungenügend wahr. Das hat historische Gründe - die man verstehen muss, damit man nicht erneut auf die "Jetzt passen wir aber auf"-Propaganda der Ministerpräsidenten hereinfällt.

Es hängt mit dem Mutterbild zusammen. Die Mutter galt hierzulande als die Erzieherin schlechthin, ihre Erziehungszuständigkeit wurde immer als Vorrecht der Familie angesehen - und gegen den Staat verteidigt. Daraus entstand im 19. Jahrhundert eine scharfe Zweiteilung: Der Staat durfte sich eine bürokratisch hochgerüstete Schule heranzüchten - vormittags. Ab zwölf galt dann das heilige Recht der Familie. Deutschland wurde so ein europäischer Ausnahmefall. Kindergärten waren nur als Bewahranstalten für Arme gelitten. Und wenn, dann allenfalls halbtags. Das ist auch heute noch die unverständliche deutsche Praxis. Es ist gerade mal fünf Jahre her, dass der Ausbau von Ganztagsschulen begann, der von Kindertagesstätten läuft jetzt mühsam an - 150 Jahre nachdem Friedrich Fröbel den Kindergarten als Bildungsanstalt erfand. In Deutschland übrigens.

Parallel dazu beobachten wir eine schwach ausgebaute öffentlich-private Fürsorge für verwahrloste Kinder. Wer mit den Sozialarbeitern, Kirchenhelfern und Stiftungsleuten spricht, denen also, die täglich mit der Bildungsarmut kämpfen, erntet oft nur Verzweiflung: über fehlendes Geld und eine oft tödliche Arbeitsteilung zwischen Ämtern und Familien. Ein paar Ministerpräsidenten behaupten, mit Zwangsuntersuchungen das Kindersterben entscheidend eindämmen zu können. Sie wiegen die Bürger in einer falschen Sicherheit. Denn ein Regime der Veranwortungslosigkeit aus dem vorletzten Jahrhundert lässt sich nicht durch einen Federstrich ändern. Alle müssen anpacken: der Staat, die Kirche, die Gesellschaft, die Jugendhilfe, die Nachbarn - je präventiver, desto besser. Und es müssen neue Instrumente her, und zwar so schnell wie möglich.

Dazu gehören drei Elemente: Es braucht, erstens, eine neue Kultur der Aufmerksamkeit. Es gibt bereits Nachbarschaftsnetzwerke in sozialen Brennpunkten, die genauer hinschauen. Ihnen entgeht selten, dass ein Kind verwahrlost oder nicht mehr auf die Straße tritt. Zweitens müssen diese Netzwerke durch konkrete Posten verknüpft werden. Mit Quartiersmanagern, die das alles zusammenhalten. Und so genannten FamilienpatInnen oder -hebammen. Sie begleiten junge Frauen konstruktiv, sobald sie einen dicken Bauch haben. Und drittens kann dann auch die gut beobachtete und folgenreiche Vorsorgeuntersuchung hinzutreten, als Moment des Zwangs. Sie allein kann - fast - nichts ausrichten.

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