Kommentar Waffenrecht: Die Waffen der Zivilgesellschaft

Die große Koalition hat beim Waffenrecht jeden sinnvollen Vorschlag ignoriert. Union und SPD haben für Lobbygruppen eine irrationale Entscheidung getroffen.

Die Koalition hat beim Waffenrecht das Kunststück vollbracht, jeden, wirklich jeden sinnvollen Vorschlag treffsicher zu ignorieren. Sie tastet das Recht der Bürger nicht an, sich hocheffiziente Tötungsinstrumente anzuschaffen, nach gründlicher Ausbildung natürlich. Sie erkennt vorbehaltlos an, dass die Bürger diese scharfen Waffen und hunderte Schuss Munition zu Hause horten, ein Wegschließen an Sammelstellen hält sie für unzumutbar und gefährlich. Sie teilt die Auffassung der Schützenverbände, dass für den deutschen Schießsport große Kaliber mit hoher Durchschlagskraft unverzichtbar sind.

Dieses politische Versagen nach dem Blutbad in Winnenden, bei dem ein 17-jähriger mit der Beretta-Pistole seines Vaters mordete, ist leider wenig überraschend. Mit ihrem Einknicken vor den 1,5 Millionen Sportschützen und ihren gut organisierten Verbänden haben Union und SPD im Wahljahr einmal mehr ein politisches Grundprinzip vorgeführt: Wenn wichtige Lobbygruppen mit Liebesentzug drohen, ist Politik in der Lage, erstaunlich irrationale Entscheidungen zu treffen. Aber die missglückte Reform des Waffenrechts bedeutet glücklicherweise nicht das Ende der Debatte, es kann vielmehr ein Anfang sein.

Wenn Politik keine adäquaten Antworten findet auf das Blutbad, dann findet die Zivilgesellschaft vielleicht bessere. Als Michael Moores Film "Bowling for Columbine" im Jahr 2002 für eine weltweite Diskussion über Schusswaffen und Amokläufe sorgte, redeten viele Deutsche gerne mit - über die aufgerüsteten US-Amerikaner ließ sich trefflich herziehen.

Winnenden wird einen Wendepunkt des Diskurses markieren. Denn die vergangenen Wochen haben der Öffentlichkeit klar vor Augen geführt: Auch Deutschland starrt vor Waffen, rund 10 Millionen liegen legal in Kellern und Wohnzimmern von Privathaushalten. Auch in Deutschland wird das Recht auf die Waffe mit Zähnen und Klauen verteidigt. Und auch in Deutschland wird es eher emotional denn rational begründet, mit Brauchtumspflege, Tradition und Freiheitsrechten.

Ansätze einer gesellschaftlichen Debatte zeigen sich bereits: Die Hinterbliebenen der Opfer von Winnenden und der Bund Deutscher Kriminalbeamter wollen mit einer bundesweiten Unterschriftenaktion gegen die weichgespülten Koalitionspläne opponieren. Schulklassen diskutierten nach dem Amoklauf über Sinn und Unsinn von Waffen in Privatbesitz. Vielleicht greift bald die Kunstszene das Thema auf. Und auch in Schützenvereinen mag sich mancher Sportler fragen, ob Fähigkeiten wie Konzentration und Zielen, ob Gemeinschaftsgefühl und Sportsgeist tatsächlich untrennbar mit tödlichen Waffen verbunden sind.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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