Debatte Leistungssport: Drogen, Rekord und Sieg

Sport ist Theater, und wir wollen Spektakuläres sehen. Doping ist die unmittelbare Folge dieses Wunsches. Sparen wir uns also die moralische Empörung darüber, sie ist bigott.

Was waren das für Zeiten! Als Lance Armstrong sich noch einmal umdrehte, um Jan Ullrich tief in die Augen zu blicken, bevor er antrat und den Berg hinauf verschwand. Schöne Zeiten für Doper, weil sie nur selten erwischt wurden. Noch schönere Zeiten für uns Zuschauer, weil wir zwar wissen konnten, dass gedopt wird, es aber nicht jederzeit wissen mussten. Die Theaterillusion der Sportaufführung war einigermaßen intakt. Helden durften Helden sein, und Sieger waren Sieger. Wir durften sie lieben und hassen. Heute setzt sich jeder Sieger dem Verdacht aus, dass das nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Ist das fair?

Manuel Beltran wurde bei der Tour positiv auf EPO getestet. Man führte ihn in Handschellen ab wie einen Verbrecher. Die dramatische Inszenierung war eine pure Entschlossenheitsdemonstration jakobinischer Dopingbekämpfer. Justiz wurde zum Spektakel. Da konnte man sehen, dass das Sporttheater längst auf einer anderen Bühne oder vielmehr im Bühnenhintergrund gespielt wird. Medizinische Kontrollen, juristische Auseinandersetzungen, bürokratische Normierungen schaffen Rahmenbedingungen, unter denen der eigentliche Wettkampf nur noch mit Vorbehalt zu führen ist. Niemand weiß, wessen Name hinterher gestrichen und wer stattdessen zum Sieger erklärt wird. Man muss also gar nicht mehr zuschauen, sondern nur noch die Gerichtsverhandlung abwarten. Floyd Landis hat den Toursieg verloren. Der mit EPO gedopte Bjarne Riis bleibt offiziell in der Siegerliste eingetragen. Ist das gerecht? Wer hat den besten Anwalt?

Ein Sportler muss nicht nur siegen, sondern der oder die Beste überhaupt sein. Asafa Powell, mit 9,4 Sekunden über 100 Meter bis vor kurzem Rekordhalter, hat das so formuliert: "Da draußen tobt ein Krieg. Jeder will der Schnellste der Welt sein. Aber nur einer kann siegen." Die Verpflichtung zum Rekord gehört zum Sport wie das Wirtschaftswachstum zum Kapitalismus. Stillstand ist Rückschritt; nur die Verbesserung zählt. Es ist abzusehen, dass ungebremstes Wirtschaftswachstum katastrophale Folgen hat, trotzdem machen wir immer weiter. Ersatzweise treiben wir den Dopingteufel aus. Aber was bleibt vom Sport dann am Ende übrig?

Sportler allein wären längst nicht mehr in der Lage, immer neue Rekorde zu produzieren. Ohne Ingenieure, Mediziner, Physiologen, Ernährungsspezialisten, Trainingsoptimierer, Videoanalytiker usw. wären sie hilflos. Selbst Yoga gehört zum modernen Methodencocktail.

Es ist allzu leicht, mitreisende Ärzte und Apotheker zu diffamieren. Die Forscher, die spezielle Legierungen für Schlittschuhkufen oder ultraschnelle Schwimmanzüge erfinden, stören uns ja auch nicht. Dabei stellen sich bei Material und Maschine dieselben Fragen wie beim Menschenkörper: Was ist erlaubt und was nicht? Ja, schlimmer noch: Ist heute noch erlaubt, was gestern erlaubt war, und wird es morgen verboten sein? Die Grenzen zwischen Doping und medizinischer Fürsorge sind nur willkürlich festzulegen. Zu begründen sind sie nicht.

Doping ist ein unlösbarer Widerspruch. Es findet statt, darf aber nicht sein. Zur Optimierung der Körperkondition ist es so notwendig wie fragwürdig: Es zerstört die Chancengleichheit (falls es die überhaupt jemals gab) und den Glauben an die "Authentizität" - ein Begriff aus der Kunst, der neuerdings auch auf den Körper anwendbar ist. Doping ist das Schmiermittel zwischen Fairplay und Konkurrenz oder zwischen der großen, imaginären, friedlichen Weltgemeinschaft des Sports und der (symbolischen) Vernichtung des Gegners. Doping ist aber auch eines der großen Heuchelthemen der Öffentlichkeit, weil es uns Zuschauern erlaubt, risikolos auf der Seite des Guten zu stehen. Den Widerspruch zwischen Siegeswillen und Sportlerethos müssen ja die anderen, die Athleten, aushalten. Wir verkleistern ihn mit Moral. Doping ist das Schweigen im Zentrum des Sports und zugleich die Lüge im Reden über den Sport.

Es gibt keinen reinen Naturzustand des Körpers. Sport ist definitionsgemäß dessen Spezialisierung, Modulierung und Manipulierung. Die Olympischen Spiele werden reichlich Gelegenheit bieten, seltsam schöne und monströse Körper in ihrer wunderlichen Vielfalt zu bestaunen. Es führt kein Weg zurück zum Idealbild der griechischen Antike, als nackte (männliche) Körper göttergleich miteinander konkurrierten wie später nur noch bei Leni Riefenstahl. Denn schon der antike Körper wurde sorgfältig eingeölt, damit er schöner glänze und die Muskeln zur Geltung kämen: Wenn Illusion Lüge ist, dann war auch das schon falsch.

Aber Sport ist Illusion. Sport ist das große Als-ob: eine Welt neben der Welt, in der dieselben Regeln gelten, die aber doch nur als Spiel konzipiert ist; eine Welt, die besser sein soll und moralischer als das Alltägliche. Zugleich ist Sport aber immer der Ernstfall. Sportler müssen dazu bereit sein, ihren Körper mit vollem Risiko für ihre Sache einzusetzen und sich selbst bis in die letzte Muskelfaser auszubeuten. Eine Todesbereitschaft gehört dazu - im Boxen wie in der Formel 1, im Radsport wie beim Military. Und auch wenn Leistungssport nicht immer gefährlich ist, ist er extrem ungesund und verkürzt die statistische Lebenserwartung. Doping mit dem Argument zu verbieten, man müsse die Gesundheit der Sportler schützen, ist so halbherzig wie heuchlerisch. Es verkennt zudem das Risiko, das zur Faszinationskraft des Sports gehört. Sport ist keine sozialstaatliche Veranstaltung, sondern ein darwinistisches Prinzip. Nur weil das so ist und weil er zugleich die "Friede, Freundschaft, ich lass dir den Vortritt"-Illusion bedient, taugt er als Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Verfasstheit.

Doping ist vermutlich so alt wie der Sport selbst. Die Kriminalisierung des Dopings ist dagegen vergleichsweise jung. Es sind besonders die Deutschen, die sich dabei hervortun, während Italiener und Spanier gelassener bleiben. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat das kürzlich in einem Interview auf deren "katholische Tradition der fröhlichen Selbstzerstörung" zurückgeführt. "Italiener und Spanier sind Angehörige einer Kultur, in der die Abspaltung des Scheins vom Sein zur populären Metaphysik gehört. Die Deutschen, speziell die protestantischen, wollen dagegen die Wörter und die Dinge wieder zur Deckung bringen. Wir sind, glaube ich, die einzige Nation auf der Welt, wo man an ehrliche Neuanfänge glaubt. Wir bleiben unberechenbar, 1945 wurden wir demokratisch, 2007 dopingfrei." So viel zu Authentizität und Theater.

Doch siegen wollen wir ja auch, wir Deutschen. Vielleicht sind Siege sogar wichtiger als der jeweilige Sport. Tennis ist langweilig geworden, seit Boris Becker und Steffi Graf abgetreten sind. Die Tour de France ohne Jan Ullrich funkt nicht mehr. Und die Olympischen Spiele werden auch ziemlich öde, wenn es nicht Dressurreiter, Kanuten und Pistolenschützen rausreißen. Dafür werden wir dann aber - gefühlt - die Saubersten gewesen sein. Wie immer, seit 1945. JÖRG MAGENAU

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