Debatte SPD-Abweichler: Hessische Gewissensbisse

Was hat die vier SPD-"Abweichler" am Ende zu ihrem Votum gegen Ypsilanti bewogen? Dass sie zu den Konsequenzen ihres Schritts schweigen, rückt ihre Motive ins Zwielicht.

Von den vier hessischen SPD-Abgeordneten, die Andrea Ypsilanti am Ende die Stimme verweigerten, brauchten drei ganze acht Monate, um zu bemerken, dass sie mit Gewissenszweifeln quasi schwanger gingen. Einen Tag vor der geplanten Wahl befreiten sie sich vor laufenden Kameras von ihren Gewissenszweifeln in einer kollektiven Sturzgeburt.

Das Gewissen ist wie die Ehre eine delikate und ernsthafte Sache. Es ist aber auch - wie jene - anfällig für jeden Missbrauch. Ob Abtreibung erlaubt werden soll oder nicht, ist zweifellos eine Gewissensfrage. Auf solche ethisch-moralischen Grundsatzfragen zielt die vom Grundgesetz für Abgeordnete herausgehobene Norm, sie seien bei ihren Entscheidungen nicht an Parteivorgaben gebunden und "nur ihrem Gewissen" unterworfen.

Ob man sich bei der Wahl einer Ministerpräsidentin von einer bestimmten, demokratisch gewählten Parlamentsfraktion unterstützen lässt, ist jedoch keine ethisch-moralische Frage. Sondern eine Frage politischer Prinzipien, die mit politischen Überzeugungen, politischen Konflikten und parteipolitischen Loyalitäten und parlamentarischen Bräuchen zu tun hat. Solche Prinzipienfragen können im Extremfall zu Gewissensfragen werden - dann, wenn es um nicht alltägliche Entscheidungen, sondern ums Ganze geht. Um Leben oder Tod, Krieg oder Frieden, Freiheit oder Unterwerfung, Recht oder Unrecht.

Die Zusammenarbeit mit der Linkspartei ist für einen Parlamentarier allemal eine Prinzipienfrage, der er sich gegenüber seiner Partei, seiner Fraktion und seinen Wählern stellen muss und nicht mit sich selbst ausmachen darf. Dagmar Metzger hat, als sie im März erfuhr, dass Andrea Ypsilanti gewillt war, ihr Wahlversprechen zu brechen, sofort und öffentlich reagiert: "Mit mir nicht." Ihr Handeln verdiente auch dann Respekt, wenn sie sich nicht auf ihr Gewissen, sondern auf ihre politischen Prinzipien berufen hätte.

Bei den anderen drei Verweigerern aus Gewissensgründen liegen die Dinge anders. Die Art und Weise, wie sie dem Publikum ihr Gewissen offenbarten, weckte nicht nur Zweifel und Spekulationen, sondern hatte die Züge einer vulgär-theologisch inszenierten Beichte. Was die drei Gewissensschwerathleten sagten, trug zu zentralen Fragen, die man Gewissenstätern im politischen Raum stellen muss, gar nichts bei. Was hat unser Gewissen so belastet, dass wir acht Monate lang nicht nur nichts sagten, sondern mitspielten und mit abstimmten - also der Partei, der Fraktion und den Wählern Loyalität vorspielten? Und warum sagte niemand - auch Dagmar Metzger nicht -, welche Konsequenzen die plötzliche Entdeckung ihres Gewissens hat? Im Klartext: Warum treten sie nicht aus der Partei aus? Beabsichtigen sie einen Parteiwechsel? Oder wollen sie die SPD-Fraktion spalten und eine neue Fraktion bilden?

Ein Teil dieser Fragen hat sich erledigt, weil Koch sofort für Neuwahlen eintrat und dafür im Landtag eine Mehrheit hat. Trotzdem rückt das eherne Schweigen der vier Abgeordneten zu diesen Fragen ihre Gewissensentscheidung ins Zwielicht. Zur Gewissensentscheidung jeder Person gehört, dass sie sich Klarheit über die Konsequenzen verschafft. Ein Parlamentarier, der dies gegenüber seiner Partei und seinen Wählern versäumt, macht sich unglaubwürdig. Wer zu den Folgen seiner Entscheidung schweigt, erweckt den Verdacht, einen Gewissenskonflikt vorzutäuschen, um andere Motive und Pläne zu verbergen.

Nach der Pressekonferenz von Wiesbaden ging es in der SPD darum, wer bei der Neuwahl als Nummer 1 im Wahlkampf antreten sollte. Die SPD hatte genau drei Möglichkeiten. Erstens hätte sie eine überzeugende Person, zum Beispiel Heidemarie Wieczorek-Zeul, präsentieren können. Zweitens hätte sie abermals Andrea Ypsilanti mit dem alten Programm ins Rennen schicken können, nachdem diese ihre Fehler eingestanden hatte - vor allem den ersten und gröbsten, sich nicht von den Linken dulden zu lassen. Drittens hätte die SPD einen Zählkandidaten nominieren und Andrea Ypsilanti als Partei- und Fraktionsvorsitzende im Amt lassen können. Diese hätte damit die Chance gewahrt, in vier Jahren wieder anzutreten.

Es spricht für den Zustand der rund 30-köpfigen Führungsriege der Hessen-SPD, dass sie sich für die dritten Option ausgesprochen und Thorsten Schäfer-Gümbel als Spitzenkandidat nominiert hat. Dass der das macht, spricht für seine parteisoldatischen Nehmerqualitäten. Immerhin hat er als Spitzenkandidat die Aussicht, auf der Landesliste wieder ins Parlament zu kommen, worauf beim voraussichtlichen Wahlergebnis nicht viele sozialdemokratische Abgeordnete hoffen dürfen.

Die Entscheidung für Schäfer-Gümbel spricht für die Blindheit und Mutlosigkeit der SPD-Führung. Die Spekulation darauf, man könne Andrea Ypsilanti vier Jahre lang gleichsam warm halten und den Wortbruch vergessen machen, um sie dann erneut als Spitzenkandidatin zu präsentieren, ist verwegen und feige. Verwegen, weil der politische Gegner nichts vergisst, was ihm nützen kann. Und feige, weil man damit das Wahlversprechen - "Koch muss weg!" - verrät.

Man redet die Fehler von Andrea Ypsilanti nicht klein, wenn man auf zwei Umstände hinweist, die mitverantwortlich sind für das Debakel. Erstens: Die Hessen-SPD besteht aus zwei sozialdemokratischen Parteien - vereinfacht gesagt, einer linken im Süden und einer rechten im Norden des Landes. Die Parteirechten um Jürgen Walter ließen sich aus Opportunismus und Angst, bei Neuwahlen ihr Mandat zu verlieren, darauf ein, eine rot-grüne Koalition zu bilden, die von der Linken geduldet werden sollte. Walter selbst gehörte der Kommission an, die das Koalitionsprogramm aushandelte. Die Stunde seines Gewissens schlug erst, als er nicht das Ministeramt kriegte, das er wollte. Ein Hessen-SPD-typisches Intrigenspiel.

Zweitens: Mitverantwortlich ist auch die konfuse Rolle der Berliner Parteizentrale in der Frage, wie mit der Linkspartei umzugehen sei. Nur Konfusion stiftete die Zentrale mit ihrem Eiertanz um die Frage, ob man rot-rote oder rot-grüne Koalitionen unter Duldung durch die Linkspartei zulassen soll oder nicht. Andrea Ypsilanti und ihr Beraterstab übernahmen die Berliner Vorgabe "Nie mit der Linkspartei", obwohl es genug Stimmen gab, die warnten, dies würde in eine Sackgasse führen.

Die Konfusion verschärfte sich zur strategischen Ratlosigkeit: In dem Maße, wie die Linkspartei in die Landesparlamente einzieht und die "Volksparteien" CDU/CSU und SPD Wähler verlieren, werden Zweierkoalitionen zur Ausnahme, Dreierkoalitionen oder große Koalitionen zur Regel. Es ist nur noch Selbstverblendung und Publikumsverblödung, wenn sich Klaus Wowereit mit 30,8 Prozent der Stimmen als "Wahlsieger" in Szene setzt.

Mit kommoden Ausreden wie, Berlin sei ein "Sonderfall" und auf Bundesebene gehe gar nichts mit der Linkspartei, werden Steinmeier und Müntefering ihre strategische Ratlosigkeit nicht mehr lange verbergen können.

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