Debatte Postkapitalismus (III): Innenausstatter mit Ethik gefragt

Demokratie ist im Kapitalismus kein Automatismus. Die Finanzkrise ist die Chance, die Spielregeln unserer Gesellschaft neu zu verhandeln.

Auch Binsenwahrheiten kommen in Zeiten der Krise ins Rutschen. Zu den Geschäftsgrundlagen der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" (im Juristen-Jargon fdGO), gehören nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sechs Grundpfeiler: Menschenrechte, Rechtsstaat, Volkssouveränität, Demokratie, Gewaltenteilung und Mehrparteienprinzip. Vom Verfassungsgericht nicht explizit erwähnt, aber im politischen Handgemenge als gleichwertig ins Spiel gebracht wurde und wird ein siebter Pfeiler: die Marktwirtschaft vulgo der Kapitalismus.

Mit dem "Erlass" Willy Brandts und der Länderregierungschefs vom 28. Januar 1972 zur "einheitlichen Behandlung der Frage der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst", dem sogenannten Radikalenerlass, wurden Bewerber im öffentlichen Dienst in allerlei kruden Verfahren auf ihre fdGO-Tauglichkeit geprüft. Offen oder unter der Hand wurde in den Anhörungsverfahren immer unterstellt, wer Zweifel an der Marktwirtschaft oder am Kapitalismus äußere, stehe nicht wirklich auf dem Boden der fdGO. Antikapitalismus oder radikale Kritik an der Marktwirtschaft standen fortan unter dem Pauschalverdacht, im Kern verfassungs- und staatsfeindlich zu sein. Umgekehrt erschlichen sich Kapitalismus und Marktwirtschaft den Nimbus von Verfassungsprinzipien und den Anschein von Garanten der Demokratie. Kapitalismuskritiker dagegen galten als potenzielle "Feinde" der Demokratie und waren damit prinzipiell in der Defensive.

GERHARD SCHERHORN (VI):

Finanzkapital rettet die Banken

BARBARA DRIBBUSCH (V):

Schwarzer Schwan

ANKE DOMSCHEIT (IV):

Die neuen Trümmerfrauen

ULRIKE HERRMANN (II):

Wie schrumpft man eine Bank?

SASKIA SASSEN (I):

Primitive Akkumulation

Das hat sich nun geändert. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Legende zerstört, wonach Marktwirtschaft und Kapitalismus die Demokratie und den Rechtsstaat gewährleisten würden. Die medialen Priester, die den Kapitalismus vulgärreligiös verklärten, predigen nun leise oder hinter verschlossenen Türen. Denn eines ist klar geworden: Ohne die Hilfe des Staates - also der Hilfe der Bürger, die letztlich mit ihren Steuergeldern für Kredite und Bürgschaften haften - hätten Kapitalismus und Marktwirtschaft kaum Chancen, diese Krise zu überleben.

Es hat sich herumgesprochen, dass Marktwirtschaft und Kapitalismus, wie sie sich insbesondere im Finanzsektor darstellen, sogar ganze Demokratien ins Wanken bringen können (wie Lettland, Ungarn und Rumänien). Und zweitens hat sich einmal mehr herausgestellt, dass der freie Markt in jene Sackgasse mündet, aus der nur politisch gesteuerte und kontrollierte Regulierungen, aber nicht die vermeintliche "Marktlogik" hinausführen.

Was folgt daraus? Es geht um Technisch-Administratives und um Grundsätzliches. Die Spielregeln für die Vergabe von staatlichen Krediten und Bürgschaften sowie für die Überwachung und Besteuerung der globalen Finanzströme sowie die Kontrolle der Aktivitäten von Fonds und Börsen müssen neu ausgehandelt werden. Doch dies kann nicht von Lobbyisten, marktradikalen "Beratern" und wirtschaftsnahen "Experten" geleistet werden, sondern von Politik und Verwaltung mit Hilfe unabhängiger Wissenschaftler. Der Bürger hat Anspruch darauf, dass die politisch zur Rechenschaft verpflichteten Verantwortlichen in Parlament und Regierung und nicht irgendwelche "Experten" und "Räte der Weisen" die Regeln aushandeln und überwachen, die den Umgang mit Steuergeldern betreffen.

Ebenso wichtig wie die technisch-administrative ist jedoch die grundsätzliche Seite. Wenn das Verhältnis von Markt und Politik bzw. von Kapitalismus und Demokratie vom Kopf auf die Füße gestellt wird, kommen alte Fragen wieder auf die Tagesordnung. Es geht um die ethisch-politische Innenausstattung der Staats- und Gesellschaftsordnung. Der lange Zeit dominierende Neoliberalismus hat diese Innenausstattung verschandelt und zerstört. Wenn der Markt alles regelt - ob mit ruhiger oder unsichtbarer Hand -, dann werden ethisch-politische Fragen vermeintlich unwichtig, altmodisch oder überflüssig.

Das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus wird aber nicht automatisch vom Markt geregelt, sondern wirft alte Grundsatzfragen auf: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wonach bemessen sich und wie lassen sich Fragen der Gerechtigkeit oder der Chancengleichheit in Bildung und Beruf regeln? Welche Antworten haben wir auf Probleme wie Massenarbeitslosigkeit und Armut in einem reichen Land und auf ein himmelschreiendes globales Wohlfahrtsgefälle? Der Kapitalismus bedarf nicht nur neuer technisch-administrativer Regeln, sondern auch einer ethisch-politischen Vorstellung, die der Demokratie bzw. der fdGO nicht ins Gesicht schlägt wie die plumpe Markttheologie.

Zunächst geht es ganz einfach um Verteilungsfragen und Chancengleichheit. Lassen sich politische und rechtliche Gleichheit mit wirtschaftlicher Ungleichheit bis hin zur Armut vereinbaren? Der ethische Skandal des Kapitalismus besteht darin, dass dieser immer mehr Güter erzeugt und gleichzeitig immer mehr Armut und Arbeitslosigkeit im Weltmaßstab wie in den einzelnen Ländern hervorbringt. Die kapitalistische Entwicklung ist der stärkste Generator für politische Spannungen zwischen reichen und armen Ländern, aber auch zwischen Armen und Reichen in einem Land. Während es eine Zeit lang so aussah, als ob der Kapitalismus nicht nur Spannungen, sondern auch einen gewissen Ausgleich durch Umverteilung erzeugen könnte, hat sich das in der Epoche des Neoliberalismus als illusionär herausgestellt. Wer bestehende Demokratien schützen und Nicht-Demokratien demokratisieren will, muss zuallererst über Grundsätze einer ethisch-politischen Regulierung des Kapitalismus nachdenken. Wie weit es sinnvoll und "systemisch notwendig" ist, kranken Banken und Industriezweigen mit Krediten und Bürgschaften zu helfen, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.

Dahinter steht jedoch eine Grundsatzfrage von enormer Reichweite. Jede Hilfe bedeutet eine Vergrößerung der Staatsverschuldung und damit eine Belastung kommender Generationen. Spätere Generationen werden zu spüren bekommen, wie Recht Marx hatte: "Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist ihre Staatsschuld." Alles, was heute als "Staatshilfe" daherkommt, ist morgen nur eine Erblast, das heißt eine Entwertung der Arbeitsleistung künftiger Generationen. Der Kapitalismus muss von außen an spekulativen Operationen und Manipulationen gehindert werden. Dazu müssen politische Regulierungen und Kontrollen verstärkt werden. Damit sind nicht direkte politische Eingriffe in unternehmerische Entscheidungen gemeint, sondern Schutzvorkehrungen gegen wilderndes Kapital.

Nach der sozialstaatlichen und ökologischen Einhegung des Kapitalismus, der weder Solidarität noch Naturschutz kennt, geht es jetzt um den Schutz der Demokratie vor dem Kapitalismus - nicht um eine Demokratisierung des Kapitalismus im strikten Sinne.

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