Kommentar 1-Euro-Jobs: Kannibalisierung regulärer Arbeit

Zwei Drittel der 1-Euro-Jobs erfüllen nicht die nötigen Bedingungen. Mit den Billig-Jobs wird ein großangelegter Mißbrauch betrieben.

Es ist nur die letzte Wendung einer Misserfolgsstory. Staatsanwälte ermitteln gegen den Chef eines Jobcenters wegen Untreue, weil er Arbeitslose in schwammig definierte 1-Euro-Jobs vermittelte. Juristisch erreicht der Streit über die unter Rot-Grün eingeführten Maßnahmen nun eine neue Ebene: die des Strafrechts. Noch ist nicht sicher, ob es zum Prozess kommt und - wenn ja - wie die Richter entscheiden. Doch falls am Ende ein Gericht den Mann schuldig spricht, könnte dies das Ende der 1-Euro-Jobs einleiten.

Zwei Effekte wären wahrscheinlich: Einerseits könnten sich viele Arbeitslose den Fall zum Vorbild nehmen und Behördenmitarbeiter anzeigen, wenn sie Aufgaben erledigen sollen, für die eigentlich Festangestellte zuständig sind. Andererseits würden auch Jobcenter-Mitarbeiter in Zukunft mehr Vorsicht walten lassen und die "Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung", so die Bezeichnung im Amtsdeutsch, nur anordnen, wenn die Grenze zu echten Jobs klar zu ziehen ist. Denn alle Untersuchungen belegen: In der Praxis ist diese Kannibalisierung regulärer Jobs die Regel. Erst Ende Juli hat der Bundesrechnungshof Grundsatzkritik geübt. Zwei Drittel der untersuchten 1-Euro-Jobs erfüllen nicht die nötigen Bedingungen, stellten die Prüfer fest. In Deutschland findet also ein groß angelegter Missbrauch der 1-Euro-Jobs statt. Anders gesagt bezuschusst der Steuerzahler über 1-Euro-Jobs Stellenabbau in Kitas, Altersheimen und Behörden.

Auch politisch ist das arbeitsmarktpolitische Instrument gescheitert. Es hat sich als Illusion erwiesen, dass Firmen massenhaft 1-Euro-Jobber in feste Stellen übernehmen. Der von Rot-Grün damals beworbene Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt ist die absolute Ausnahme. Dennoch erleben viele 1-Euro-Jobber ihre neue Aufgabe durchaus als erfüllend. Sie werden gebraucht, bekommen Rückmeldung, fühlen sich wertvoll, trotz der lächerlichen Bezahlung. Das ist die Ironie der 1-Euro-Jobs: Ausgerechnet sie widerlegen das ewige Klischee vom faulen, lernunwilligen Arbeitslosen am besten.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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