Kommentar CIA-Folterpraktiken: Keine Frage der Quantität

Ob 183 Folter-Erfahrungen schlimmer sind als eine einzige: Darüber ein Urteil zu fällen steht der Öffentlichkeit nicht zu. Folter darf in einer Demokratie einfach keinen Platz haben.

Je mehr Einzelheiten über grauenvolle Ereignisse bekannt werden, desto leichter fällt die Identifikation mit den Opfern. 183-mal musste der mutmaßliche Terrorist Khalid Sheikh Mohammed beim sogenannten Waterboarding die Angst vor dem Ertrinkungstod erleiden. Wenn wir das gewusst hätten! Die Verbrechen der Bush-Regierung hatten ja offenbar System. Es ging also nicht nur darum, Geständnisse und somit sicherheitsrelevante Informationen zu erlangen, sondern auch darum, Menschen zu brechen. Muss das nicht den Abscheu vor derlei Praktiken noch vergrößern? Nein. Muss es nicht und sollte es nicht.

Menschenrechtsverletzung bleibt Menschenrechtsverletzung, und hinter Folter steckt immer ein System. Es gibt Grauen, das sich nicht steigern lässt. Eine einzige Folter-Erfahrung kann traumatisierend sein. Ob 183 Folter-Erfahrungen schlimmer sind als eine einzige: Darüber ein Urteil zu fällen steht nur den Betroffenen, nicht aber der Öffentlichkeit zu. So wenig, wie sie beurteilen kann, ob eine einzige Vergewaltigung leichter zu verkraften ist als eine Serie von sexuellen Übergriffen.

Folter darf in einer demokratischen Gesellschaft keinen Platz haben. Punkt. Mit diesem Satz beginnt und endet die Bewertung. Soll heißen: Wer einen Häftling ein einziges Mal unter Wasser drückt, handelt nicht weniger rechtswidrig oder abscheulich als jemand, der einen Häftling 183-mal unter Wasser drückt. Was bedeutet diese Tatsache für das Versprechen der Straffreiheit, das US-Präsident Obama für die Täter gerade abgegeben hat?

Es geht in diesem Zusammenhang nicht darum, was eine nicht persönlich betroffene Öffentlichkeit aushält und was sie nicht aushält, sondern um eine politische Bewertung von Entscheidungen, die im Spannungsfeld zwischen Möglichem und Machbarem steht. Die ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint.

Es kann stets gute Gründe geben, die "Kleinen" laufen zu lassen - dann nämlich, wenn man nur so an die "Großen", an die Drahtzieher also, herankommt. Bei der Bekämpfung von Straftatbeständen wie Drogenhandel und Zwangsprostitution ist das längst ein weitgehend akzeptierter Grundsatz. Es kann aber sogar gute Gründe geben, "Große" laufen zu lassen: dann nämlich, wenn andernfalls Tausende weiterer Opfer zu sterben drohen. Diktatoren, die befürchten müssen, vor einen internationalen Strafgerichtshof gestellt zu werden, klammern sich verbissener an die Macht als solche, die auf ein entspanntes, komfortables Exil hoffen dürfen.

Das ist unbefriedigend, schon klar. Die Sehnsucht danach, dass Verbrecher wenigstens irgendwann und irgendwo bestraft werden, ist der Ursprung aller Sehnsüchte nach Gerechtigkeit und auch aller religiösen Höllenvorstellungen. Aber da wir nun einmal auf der Erde und nicht im Jenseits leben: Wie ist also die Entscheidung von Barack Obama, des mächtigsten Mannes der Welt, zu werten?

Abwarten. Wenn es dem US-Präsidenten nur darum geht, die Dienste und das Militär nicht gegen sich aufzubringen, dann hat er mit seiner Entscheidung einen großen Teil des Vertrauens verspielt, das ihm weltweit entgegengebracht worden ist. Ein Befehlsnotstand kann allenfalls von Tätern geltend gemacht werden, die in einer Diktatur leben. Die USA, was immer man gegen sie sagen kann, sind keine Diktatur.

Ein Folterknecht, der seine Geschichte den US-Medien erzählt hätte, wäre zum Star avanciert - und hätte, anders als seine Kollegen in Afrika oder Lateinamerika, gewiss nicht befürchten müssen, in einem anonymen Massengrab zu enden. Das begründet also keine Amnestie.

Wenn Obama jedoch mit seinem Versprechen der Straffreiheit "für die Kleinen" den Boden dafür bereitet hat, dass eine redliche, schonungslose Bewertung der Politik seines Vorgängers überhaupt stattfinden kann, dann ließe sich diese Zusage durchaus rechtfertigen. Es gibt Hinweise, die hoffen lassen. Zum Beispiel die Veröffentlichungen zu den Verhörpraktiken der Ära Bush.

Diese Veröffentlichung ist ein ziemlich mutiger Schritt. Wie er gemeint ist, werden allerdings erst die nächsten Monate zeigen. Vielleicht wird ja doch ein Strafverfahren gegen den ehemaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney eröffnet. Das würde dann in der Tat die Diskussionen über die CIA-Amnestie obsolet machen. Und wenn das nicht passiert? Dann ist Obama entzaubert.

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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