Schlagloch Wachstums-Enquete: Leben nach dem Wachstum

Die postfossilen Gesellschaft ist nur mit Wissen und Wollen vieler Bürger zu realisieren. Diese Politiklücke zu schließen, wäre der Mehrwert einer Enquetekommission "Wachstum".

Die Eule der Minerva hat einen langen Dienstweg, schon deshalb ist sie nicht nachtragend. Mit Befriedigung nimmt sie zur Kenntnis, dass nur 42 Jahre nachdem Bobby Kennedy die Untauglichkeit des BSP für die Wohlstandsmessung und nur 38 Jahre nachdem Dennis Meadows die Grenzen des Wachstums erkannte, das Kerndogma des Kapitalismus auch in den Chefetagen ins Wanken gerät.

Angela Merkel, die kürzlich noch das Wachstumsmantra betete - "Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen" – fordert "uns" auf, über eine "neue Form des Wachstums nachzudenken". Und damit dies gründlich geschehe, bereiten SPD und Grüne eine Wachstums-Enquete des Bundestags vor.

Enquetekommissionen, mit Parlamentariern und Experten bestückt, sollen fraktionsübergreifend Lösungen für langfristige Probleme suchen, die der Zustimmung großer Bürgermehrheiten bedürfen. Eine Wachstums-Enquete – da liegt die "Systemfrage" in der Luft und deshalb auch die Vermeidungsverlockung. Ihr Erfolg wird deshalb davon abhängen, wie der Untersuchungsauftrag formuliert wird. Denn mit ihm werden Fragen ausgeklammert und Ergebnisse vorprogrammiert. Ist der Auftrag zu kleinteilig oder zaghaft, bleibt das Resultat politisch irrelevant; ist er zu abstrakt, kommt ein Taschenbuch dabei heraus, und das ist auch keine Lösung.

lebt als Schriftsteller und freier Publizist in Berlin. Von 1991 bis 1994 war er Chefredakteur der Wochenpost. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über unser Gesundheitswesen, in dem "Public Health" immer noch ein Fremdwort und ein vernachlässigtes Modul im Medizinstudium ist.

Beide Gefahren schimmern bereits durch die ersten Positionspapiere. Die Grünen – notorisch schwankend zwischen Markt und Staat und noch traumatisiert vom Fiasko mit der Benzinsteuer – wollen den "strukturellen Wachstumszwang, wenn ökonomisch möglich, abbauen".

Die Formel hinkt dem faktischen Nullwachstum in diesem Jahrzehnt hinterher, ebenso wie den deprimierenden Erkenntnissen über Grenzen der "Entkoppelung" von Ressourcenverbrauch und Wachstum und, vor allem, dem Wissen über die begrenzte Tragfähigkeit der Erde, der wir jedes Jahr 25 Prozent mehr Material entnehmen, als eine nachhaltige Bewirtschaftung erforderte.

Die Sozialdemokraten fordern einen "ganzheitlichen Fortschrittsbegriff" und drohen dabei in die Tiefen der Gründlichkeit abzutauchen: zunächst müssten die Indikatoren für Umwelt, Gesundheit, Bildung, Zugang zu Arbeit erarbeitet und messbar gemacht werden, sodann "in einem ganzheitlichen Fortschrittsindikator zusammengeführt" und schließlich dem Bruttoinlandsprodukt gegenübergestellt werden. Das klingt nach gewohnt vorauseilender Kompromissbereitschaft, nach Zahlenschiebereien in vielen, vielen Kommissionen und nicht nach der "Arbeit der Zuspitzung", wie Peter Glotz das einst nannte.

Die große Chance einer Enquetekommission liegt in einem illusionslosen Blick auf die Realitäten und im Mut zur Vision einer "wachstumsbefriedeten" (Wolfgang Sachs) Gesellschaft. Die Fragen, die sie stellen muss, lauten: "Wie können die Politikziele Vollbeschäftigung, intakte Umwelt, Generationengerechtigkeit, Bildungsexpansion, Innovationsforschung, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, öffentliche Daseinsvorsorge, Vermögensbildung breiter Bevölkerungsschichten ohne Wachstum erreicht werden?"

Detaillierter, und nur zum Beispiel: "Wie kann die Vernachlässigung des von jedermann nutzbaren öffentlichen Raums rückgängig gemacht werden? Wie könnte eine neue Esskultur aussehen, die auf einer nachhaltigen Landwirtschaft beruht?" Und vor allem: "Welche konkreten politischen Rahmenbedingungen sind hierfür nötig?"

Solche Fragen – die Umkehrung des Merkelschen Mantras – sind radikaler als die von SPD und Grünen; sie kommen aus der Denkfabrik des liberalkonservativen Meinhard Miegel. Wer so fragt, macht nicht länger das Wachstum zur unabhängigen Variablen, sondern geht, umgekehrt, von unverzichtbaren Zielgrößen aus und fragt nach den wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen und Pfaden, die zur Erreichung dieser Ziele taugen. In der Frage der Instrumente, nicht der Ziele ergebnisoffen, stellte eine solche Enquete zwar nicht die "Systemfrage" (womit sie politisch erledigt wäre).

Aber, indem sie die Bewahrung grundgesetzlich gestützter sozialer Bürgerrechte zum Ausgangspunkt machte, beförderte sie die Diskussion über Systemschranken – selbst die eines "grünen Kapitalismus". Sie muss sich der Frage stellen, ob soziale Bürgerrechte wie Wasser, Gesundheit, Bildung, Wohnraum, soziale Dienste, Kultur bei schrumpfendem Wachstum durch Marktmechanismen oder individuelle Einkommen zu sichern sind; ob sozialer Zusammenhalt nicht nur noch durch eine radikale Umverteilung von Arbeit, sprich Verkürzung der Arbeitszeit, herstellbar ist, und damit durch eine Umverteilung von Einkommen. Sind unsere Vorstellungen von Zivilisation überhaupt noch zu retten, wenn wir nicht den öffentlichen Reichtum gegenüber dem individuellen Konsum stärken?

Der Übergang zur postfossilen Gesellschaft ist nur mit Wissen und Wollen vieler Bürger zu schaffen. Der größte anzunehmende Gewinn einer Enquetekommission bestünde deshalb darin, unsere lähmende Politiklücke zu schließen: zwischen den tausenden von NGOs, Kommunalaktivisten, Ökobauern etc., die sich im Kleinen längst auf den Weg in die solare Welt gemacht haben, und den politischen Institutionen, die allein die Bereitschaften bündeln, den gesamtgesellschaftlichen Wandel organisieren können.

Wenn sie die richtigen Fragen stellt, wäre solche Enquete auch für die Aktivisten von Attac, die kritischen Wissenschaftler, die politisch Resignierten eine große Herausforderung: sich nüchtern auf die Details der Transformation, auf eine Fortentwicklung der sozialen Demokratie und auf den Staat einzulassen. Wenn die Medien die Arbeit dieser Kommission klug begleiten, dann könnte sie zum organisierenden Zentrum eines "nationalen Ratschlags" werden, zur demokratischen Denkwerkstatt des Großen Wandels.

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