Debatte Sozialstaat: Lohn der Solidarität

Warum finden Sloterdijk, Westerwelle und Sarrazin so viel Anklang, wenn sie gegen die Unterstützung von Armen poltern? Ein Gegenvorschlag.

Wie ist die Stimmung im Lande? Das lässt sich an den unterschiedlichen Reaktionen ablesen, die Prominente mit ihren Wortmeldungen in jüngster Zeit in der deutschen Öffentlichkeit gefunden haben.

Als der renommierte Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde im Frühjahr 2009 in seiner Streitschrift "Woran der Kapitalismus krankt" für ein Gegenmodell zum heutigen inhumanen Kapitalismus plädierte, ging die öffentliche Reaktion gegen null. Ganz anders erging es Interventionen, die man einem anderen politischen "Lager" zurechnen könnte. Dessen Botschaft lautet: Unsere Gesellschaft ist gerecht, wenn der monetär Erfolgreiche nicht allzu sehr belastet - und der wirtschaftlich Unnütze dafür umso mehr geknechtet wird. Heute seien die Verhältnisse nun genau umgekehrt, heißt es, weshalb sie zu ändern seien.

In diesem Sinne befand etwa Peter Sloterdijk im Juni 2009, der Sozial- und Steuerstaat ("Kleptokratie") sei so ungerecht, dass dem Leistungsträger nur noch die freiwillige Gabe, nicht länger die Pflicht der Steuer zuzumuten sei. Der Philosoph weiß die Eliten hinter sich. Schon 2008 drohte Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Springer-Konzerns: "Vor einigen Jahrhunderten brachen Revolutionen aus, weil man den Leuten den Zehnten nahm. Heute nimmt der Staat die Hälfte." Der Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin und Vizekanzler Guido Westerwelle stießen ins selbe Horn: Der eine beklagt die faulen Ausländer, die den Sozialstaat plünderten. Der andere sorgt sich, dass die Hartz-IV-Sätze über den Niedriglöhnen liegen könnten - und sieht dabei die Höhe der Hartz-IV-Beträge als Problem.

Der Jenaer Wissenschaftler Stephan Lessenich meint, Sloterdijk, Sarrazin und Westerwelle wüssten "weite Teile der arbeitnehmerischen Mittelschichten und des freiberuflichen Mittelstands hinter sich". Tatsächlich zahlen die qualifizierten Mittelschichten, deren Jahreseinkommen zwischen 50.000 und 70.000 Euro liegen, prozentual die höchsten Steuern. Sie spüren die Folgen der Politik, die Kanzler Schröder begann und Kanzlerin Merkel fortsetzt. Der Sozialstaat stagniert - aber er wird fast nur noch von den Mittelschichten und nicht mehr von Reichen und Unternehmen bezahlt. Deshalb schaut der normale Steuerzahler argwöhnisch auf den, der Sozialleistungen bezieht, aber keine Beiträge einzahlt. Und deshalb registriert er argwöhnisch, dass die soziale Frage auch eine ethnische geworden ist. Das mentale Fundament des Sozialstaates von einst, die deutsche Nation, ist perdu. Zugleich erfährt er: Das große Versprechen dieser Gesellschaft, Leistung bedeute sozialen Aufstieg, gilt für ihn und seine Kinder nicht mehr.

Damit ist ein Punkt erreicht, vor dem der Sozialphilosoph Jürgen Habermas bereits in den Achtzigerjahren warnte. Die Achillesferse des Wohlfahrtsstaates stellten die Mittelschichten dar, schrieb er damals. Wenn diese das Gefühl hätten, sie bezahlten für den Sozialstaat, ohne von ihm zu profitieren, wendeten sie sich ab. Genau deshalb traf Böckenförde nicht den Nerv der Mittelschichten - er nervte sie nur. Der Resonanzboden ist nicht für ihn, sondern für Sloterdijk, Sarrazin und Westerwelle bereitet.

Was tun? Die erste Antwort lautet: nicht länger ignorieren, dass dem Sozialstaat seine Elitetruppen und Finanziers abhandenkommen, und deren Ängste und Kritik ernst nehmen. Die zweite Antwort: aus all dem den Schluss ziehen, der Sozialstaat kann nur gehalten werden, wenn diese Schichten zurückgewonnen werden. Die dritte Antwort: Deshalb reicht es nicht, den jetzigen Sozialstaat zu verteidigen, denn genau vor dem laufen die Mittelschichten ja weg. Die vierte Antwort: Es gibt eine gute Chance, diese Mittelschichten zu überzeugen, denn deren größter Teil will Solidarität leben - er findet sie im eigenen Leben nur nicht vor. Die Werte Solidarität und Gerechtigkeit faszinieren unverändert. Es hapert bei der Umsetzung, die nicht mehr zeitgemäß ist. Die sechste Antwort: Es wäre verhängnisvoll, würde den Fliehenden unterstellt, sie seien gegen Solidarität und das gemeinsame Öffentliche. So. Und nun?

Ein Vorschlag: Die Debatte um einen neuen Sozialstaat verlässt die Sphäre der Moral und betritt die des Ökonomischen. Eine Ursache der großen Krise von heute sind auch die Handelsungleichgewichte. Deshalb muss Deutschland alles tun, um eine neue Balance von Export- und Binnenwirtschaft zu finden. Die deutsche Wirtschaft hat, verglichen mit Schweden, einige Millionen Arbeitsplätze zu wenig im Bereich der Dienstleistungen: Bildung, Pflege, Gesundheit.

Der Industriesoziologe Michael Vester hat berechnet: Im Jahr 2000 war in Schweden die Beschäftigung im technisch-industriellen Sektor um etwa 6 Prozent niedriger als in Deutschland, die Beschäftigung in den Humandienstleistungen um etwa den gleichen Prozentsatz höher. Den Arbeitsplatz, der in der schwedischen Industrie wegen der höheren Produktivität wegfällt, den schaffen die Schweden also im Bereich der Humandienstleistungen neu. Der zweite entscheidende Unterschied: Die Arbeitsplätze dort sind qualifiziert und gut bezahlt. In Deutschland dagegen sind sie mies und mies bezahlt. Auf Deutsch gesagt: Am Fließband von Daimler bauen die besten Facharbeiter Autos für den Export zusammen. Und zwei Straßenzüge weiter kümmern sich schlecht bezahlte und schlecht ausgebildete Pflegekräfte, zumeist natürlich Frauen, um Rentner.

Es gibt eine Lokomotive, mit der wir uns aus dieser Sackgasse der Inhumanität herausziehen können: der politische Lohn. Wir brauchen einige Millionen Arbeitsplätze mehr in dem Bereich der Humandienstleistungen - Arbeitsplätze, die qualifiziert und gut bezahlt sind. Diese hohen Löhne gibt der Markt nicht her. Deshalb müssen dort, von der Öffentlichkeit initiiert, subventioniert und verantwortet, politische Löhne gezahlt werden. So wird gute Arbeit geschaffen. So gibt es gute Dienstleistungen, die Probleme lösen, die es heute in jeder Familie gibt. So gibt es eine Solidarität, die sichtbar ist und an der Idee der Leistung ansetzt. So könnten die zu Recht sozialstaats-skeptischen Mittelschichten zurückgewonnen werden.

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