Debatte Postkapitalismus (IX): Marktreligiöse Wissenschaft

Die Analyse der Krise ist unterkomplex, daher sind die Therapieansätze weitgehend sinnlos. Der banale Grund: Schuldabwehr.

Noch immer hält sich die Ansicht, die Krise sei in erster Linie durch die verantwortungslose Kreditvergabe an nahezu mittellose "Häuslebauer" in den USA verursacht worden. Dieser deutlich zu einfachen "Diagnose" entspricht die vorherrschende Therapie: Den notleidenden Banken muss "frisches Blut" in Form von Liquidität und Eigenkapital zugeführt werden, und ihre "toxic assets" gilt es zu entsorgen.

Tatsächlich aber sind die Gründe für die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise weit komplexer. Im Wesentlichen war der gleichzeitige Verfall der Aktienkurse, der Immobilienpreise und der Rohstoffpreise (wie zwischen 1929 und 1933) ausschlaggebend. Dieser dreifache Entwertungsprozess veranlasst Haushalte, Unternehmen, Banken und Entwicklungsländer, ihre Nachfrage einzuschränken. Via diese Einschränkung griff die Finanzkrise auf die Realwirtschaft über.

Das Potenzial für die Vermögensentwertung wurde durch die Booms von Aktienkursen, Immobilienpreisen und Rohstoffpreisen zwischen 2003 und 2007 "aufgebaut". Dabei ist festzuhalten: Die Verdreifachung der Aktienkurse und Rohstoffpreise (und die Verdoppelung des Eurokurses) wurde durch "business as usual" auf den Derivatmärkten bewirkt, insbesondere durch "technische Systemspiele".

Das durch die drei "Booms" aufgebaute "Absturzpotenzial" wurde von den Eliten in Wissenschaft, Medien und Politik nicht realisiert - ihre Marktgläubigkeit war zu groß. Bis heute lauten ihre Glaubenssätze: Die freiesten und bestregulierten Märkte, die Börsen für Finanzderivate, können doch nicht systematisch falsche Preissignale setzen! Im Gegenteil: Wenn das Geld an der Börse so wunderbar arbeitet, wird und soll es auch für das Alter sorgen.

Ab 2006 setzte die große "Schubumkehr" ein: Zuerst begannen die Immobilienpreise zu sinken und brachten immer mehr Häuserkäufern die Insolvenz. Das ließ ab Sommer 2007 die Aktienkurse fallen. Danach stürzten sich die professionellen "Geldvermehrer" auf Rohstoffderivate: Nur wegen steigender Rohstoffpreise beschleunigte sich die Inflation. Dies genügte der Europäischen Zentralbank, die Zinsen nicht zu senken, im Gegensatz zu den USA. Folge: Der Eurokurs stieg auf 1,60 Dollar, die Konjunktur verschlechterte sich auch in der EU dramatisch.

In all diese Regelkreise griff und greift die Politik nicht ein, denn es handelt sich ja um Ergebnisse des freien Marktes. Hinter dieser Handlungsunwilligkeit steckt die langjährige Hegemonie der neoliberalen Weltanschauung. Sie hat wesentlich zur Entfesselung der Finanzmärkte beigetragen und gleichzeitig die Mentalität "Lassen wir unser Geld arbeiten!" gefördert. Die Konzentration der Krisenpolitik auf den Finanzsektor zeigt die Wandlung dieser Losung in "Lasst uns unser Geld retten!".

Das Haupthindernis auf dem Weg zu einer nachhaltigen Bekämpfung der großen Krise besteht im "Kognitive-Dissonanz-Syndrom" der Eliten: Einsichten, welche dem neoliberalen Weltbild widersprechen, werden aufgrund einer Mischung aus Marktgläubigkeit, Dummheit sowie einer Art cleveren Zynismus blockiert. Anderenfalls müssten sich die Eliten unangenehmen Fragen aussetzen: Haben sie selbst mit ihren Empfehlungen zum Finanzboom beigetragen und damit indirekt zur Krise? Tragen sie so Mitschuld am Schicksal Millionen Arbeitsloser (die am Finanzboom unbeteiligt waren)? Soll die mühsame Restauration der Wirtschaftstheorie der 1920er-Jahre umsonst gewesen sein?

Angesichts dieser "Dissonanzen" bleiben die Eliten lieber ihren Grundsätzen treu. Am treuesten sind sich die Wissenschafter in Europa, insbesondere in Deutschland. So riefen die ökonomischen Geistesgrößen zwar nach dem Staat, als es galt, die Banken und damit unser/ihr Geld zu retten. Jetzt aber, wo es darum geht, die Auswirkungen der Krise auf die Arbeitslosigkeit durch Konjunkturpakete zu mildern, quillt der neoliberale Smog wieder ungefiltert ins Großhirn: Wer weiß, ob das was bringt, der "New Deal" von Roosevelt war auch nicht erfolgreich (definitiv falsch) - und überhaupt dieser Keynes. Schließlich das wichtigste Argument: Das kostet alles zu viel, und höhere Steuern könnten die Eliten ins Ausland treiben.

Jene Eliten, deren Position auch von der Beurteilung durch das "gemeine Volk" abhängt, die Politiker, beginnen als Erste, sich von der "Marktreligiosität" abzusetzen - auf der Ebene der Rhetorik sowieso (Solidarität, Gerechtigkeit, ja sogar Umverteilung werden zu Modeworten, Eigenverantwortung, soziale Hängematte etc. werden entsorgt), aber auch auf der Ebene der Praxis. So hat die deutsche Regierung mit der Förderung der Kurzarbeit (im Konjunkturpaket II) einen bedeutenden Schritt zur Milderung der großen Krise gemacht. Wenn die Unternehmen Löhne nur im Ausmaß der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit zahlen müssen (die jetzige Lösung kommt dem nahe), besteht folgende Chance: Die Verringerung des gesamten Arbeitsvolumens (Gesamtstunden) wird auch bei einer längerfristigen Krise durch Verkürzung der effektiven Arbeitszeit bewältigt und nicht durch eine Aufspaltung der Gesellschaft in Beschäftigte und Arbeitslose.

Dies wäre eine solidarische Lösung, die gleichzeitig auch den Unternehmerinteressen dient, da Qualifikationsverluste durch Arbeitslosigkeit vermieden werden (ihre Disziplinierungswirkung ist derzeit - anders als vor 35 Jahren - entbehrlich). Allerdings bedarf es einer massiven Kampagne der Politik: Das Vorurteil ist zu überwinden, Kurzarbeit sei nur eine Übergangsmaßnahme für eine kurze Rezessionsphase. Diese Art der Krisenbewältigung müsste geradezu ein moralischer Imperativ für alle Unternehmen werden, nicht nur für die Konzerne.

Damit wäre ein wichtiger Schritt zurück zu pragmatischer Vernunft gemacht. Der nächste notwendige Schritt, die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, wird der politischen Elite zwar etwas schwerer fallen, doch am Ende der neoliberal-finanzkapitalistischen Sackgasse müssen auch jene umkehren, die diese Sackgasse für den "Weg zur Freiheit" hielten.

STEPHAN SCHULMEISTER

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