Debatte Kindstötungen: Missverständnis Mutterschaft

Die Tötung des eigenen Kindes gilt inzwischen fast schon als alltägliches Verbrechen. Damit bröckeln die Mythen rund um die Mutterschaft. Diese Erkenntnis war fällig.

Der Doppelmord an zwei Kindern durch die Mutter kürzlich in Mönchengladbach erschien in den überregionalen Zeitungen nur noch als Randmeldung. Zur gleichen Zeit hatte eine Mutter in Kirchberg gestanden, dass sie ihren zweijährigen Sohn hat verdursten lassen. Dann wurde in Nauen ein getötetes Neugeborenes in einer Plastiktüte entdeckt. Und am Freitag ertränkte eine Mutter im bayerischen Gersthofen zwei ihrer fünf Kinder in der Badewanne.

Die neuen Fälle wirken kaum noch spektakulär, nachdem in der Vorweihnachtszeit eine Mutter auf einen Schlag gleich fünf Kinder umbrachte. Auch ist der Prozess gegen jene Mutter noch gut in Erinnerung, die ihre neun Babys tötete. Dass manchmal hausfrauliche Gegenstände wie Tiefkühltruhen und Blumenkästen bei der Entsorgung von Kinderleichen halfen, verstärkte den Schaudereffekt.

Tötungsdelikte an Kindern gehen inzwischen in die routinemäßige Berichterstattung ein. Das Verbrechen erscheint fast schon alltäglich. Aber immerhin hilft dieser nüchterne Blick auf mordende Mütter, gängige Mythen zu zerlegen. Unsere Vorstellungen erweitern sich, wie Mütter reagieren können. Das ist ein Erkenntnisgewinn.

104 Kinder wurden im Jahre 2006, laut der jüngsten vorliegenden Statistik, Opfer von Tötungsdelikten. Die Mehrzahl wurde von einem oder beiden Elternteilen oder dem Lebensgefährten der Mutter umgebracht. Die Zahlen sind über die Jahre rückläufig. Die Fallgruppen seien sehr unterschiedlich, betont Theresia Höynck, Wissenschaftlerin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, die aktuell zum Thema forscht.

Ein Drittel der Kindestötungen gelten als "Neonatizide", also Tötungen von Neugeborenen. Meist sind die Mütter die Täterinnen. In allen anderen Fällen sind Mütter und Väter zu gleichen Teilen vertreten.

Dass Mütter als Täterinnen sogar eine größere Rolle spielen als die Väter, wird von Männergruppen in Internetforen mitunter gerne als Beweis dafür genommen, dass es falsch sei, den Frauen automatisch die engere und damit schützendere Verbindung zum Kind zu unterstellen. Nähe zum Kind bedeute nämlich auch Ausgeliefertsein an die Mutter - diese Interpretation ist eine interessante Umkehrung - den Psychotherapeuten übrigens nicht ganz unbekannt.

Es bröselt der hartnäckige Mythos, Mütter seien per se die Guten für ihren Nachwuchs. Am Tag der Geburt ist das Risiko eines Säuglings, von der Mutter getötet zu werden, am höchsten, weiß die kriminologische Forschung. Erst nach der Geburt wächst die mütterliche Bindung. Der Mutterinstinkt ist keine naturgegebene Kraft, die das Kleine automatisch vor Bösem bewahrt.

Von den Frauen, die ihr Neugeborenes töten, haben die meisten ihre Schwangerschaft zuvor verdrängt und die Umgebung belogen, bis es für eine Abtreibung zu spät war. Die innere Abwehr des körperlichen Zustandes führte zum Verbrechen. Was man auch als Hinweis lesen mag, als wie bedrohlich die Mutterrolle empfunden werden kann.

Die Aufwertung der Mutter als die Reine, Gute und Schützende sei ein "Resultat der bürgerlichen Kultur", sagte die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen kürzlich. Nun reicht es allerdings nicht, als Gegenstück die außer Kontrolle geratene Teufelsmutter zu beschwören, die etwa wie die Sagengestalt Medea ihre Kinder aus Rachegründen tötet. Die Polarisierung zwischen Gut und Böse hilft nicht weiter. Das Anklagen der "Monster-Mutter" lässt das Bild der "guten Mutter" erst recht in strahlendem Licht erscheinen. Beides aber entspricht nicht den komplexen Gefühlen der Frauen, die mit ihrer Mutterrolle in Abgründe geraten.

So unterscheidet die Forschung bei den Kindestötungen vielfältige Motive. Da gibt es die ungewollte Schwangerschaft, die mit dem Neonatizid endet. Ein Grund ist auch der "erweiterte Suizid", wenn etwa eine Mutter aus dem Leben scheiden und ihr Kind in den Tod "mitnehmen" möchte. Manche Frauen töten, um sich am Expartner zu rächen, wie möglicherweise beim doppelten Kindsmord in Mönchengladbach geschehen. Die Kindestötung kann auch eine Folge von Vernachlässigung und Misshandlung sein, wie im Fall der kleinen Lea-Sophie aus Schwerin. Die Frage, wie vorsätzlich ein solcher Tod in Kauf genommen wird, beschäftigt die Gerichte oft monatelang.

Vor Gericht zeigt sich dann oft das Drama der Frauen, die von der Mutterschaft eine Lösung ihrer Identitätsprobleme erwartet hatten. Sie hofften auf die Nähe und Bestätigung, die sie selbst als Kind vermisst hatten. Für diese Frauen entpuppt sich die Mutterschaft als trauriges Missverständnis. Denn wohl kaum irgendwo sonst wird ein Mensch so stark mit Forderung, Ablösung, Fremdheit konfrontiert wie in der Elternrolle. Manchmal öffnet die Begegnung mit dem bedürftigen Kind erst die Falltür zu schlimmsten Erinnerungen an die eigene Kindheit. Im Fall der verhungerten Jessica in Hamburg war die Täterin unauffällig gewesen, erst als Mutter reagierte sie sadistisch.

Die Abschiebung der Kindstötungen in die Kategorie "asoziales Milieu" funktioniert übrigens nicht. Während sich die körperliche Vernachlässigung eines Kindes vor allem in sozial schwachen Schichten findet, kommen die Kindstötungen aus Rache, erweiterte Suizide, Neonatizide oder psychisch ausgelöste Kindesmorde in allen Schichten vor.

Zu einfach ist auch der Ausweg, tötende Mütter automatisch in die Schublade der Geisteskranken zu stecken. Die Forschung geht davon aus, dass nur etwa 10 bis 15 Prozent der Täterinnen in akuten psychischen Krisen töten. Vieles befände sich im "Grenzbereich zur psychischen Erkrankung", sagt Höynck. Genau dieser Grenzbereich aber ist es, der Angst macht, weil er sich der Einordnung entzieht. Unheimlich ist die Versicherung mancher mordender Mütter vor Gericht, sie hätten ihr Kind doch trotz allem geliebt.

Unser Entsetzen ist so groß, weil ein Urtrauma berührt wird: Die Person, von der unser Wohlergehen abhängt, ist gleichzeitig die schlimmste Bedrohung. Das Kind ist der Mutter hilflos ausgesetzt. Aber umgekehrt gilt genauso: Aus der Mutterrolle gibt es kein Entrinnen, wenn sich die Schwangerschaft erst mal im fortgeschrittenen Stadium befindet. Zeugende Männer haben es da immer noch leichter, die Vaterrolle abzulegen wie einen unbequemen Anzug.

Doch die weibliche Seele nützt viele Wege, um sich dem Druck zu entziehen, wie Abspaltung, Umdeutung, Rollentausch. Die Mutter der verhungerten Lea-Sophie erklärte, das Kind selbst habe das Essen verweigert - ein gruseliger Fall von Rollenverdrehung, durch den sich die Psyche zu entlasten versucht.

Wenn eine Mutter ihr Kind tötet, geschehe dies auch aus einem Gefühl des radikalen Alleingelassenseins, des Entwurzeltseins in der Welt, sagt Bronfen. Das heißt nicht, die Täterinnen von der Verantwortung freizusprechen. Man muss die Verantwortung so weit wie möglich bei ihnen belassen. Nur Monster, das sind sie nicht.

BARBARA DRIBBUSCH

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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