Pro & Contra: Muss sich die SPD von der Agenda 2010 verabschieden?

Ja, sagt Guido van den Berg - Hartz IV bedeutet meist nur noch sozialen Abstieg und Existenzangst. Nein, sagt Michael Kumpfmüller - Sozialstandards sind ohne Reformen nicht zu halten.

Pro & Contra – Ist die Schröder-Agenda noch zeitgemäß? Bild: ap

Pro: Guido van den Berg, SPD-Vorsitzender im Rhein-Erft-Kreis und Mitglied im Parteirat der Bundes-SPD.

Die Agenda 2010 hatte auch Gutes wie zum Beispiel 200.000 neue Krippenplätze. Hartz IV hingegen bedeutet für die meisten nur noch sozialen Abstieg und Existenzangst. Das müssen wir ändern. SPD und soziale Gerechtigkeit - das muss für alle erkennbar wieder eine Einheit sein.

Die SPD braucht einen neuen sozialpolitischen Denkansatz, um ihr Ziel soziale Gerechtigkeit zeitgerecht zu verwirklichen. Die Sozialdemokratie hat in fast 150 Jahren immer neue Wege gesucht, für alle Menschen die Teilhabe am Haben und Sagen zu ermöglichen. Heute ist das bedingungslose Grundeinkommen das richtige Konzept. So wie jeder Mensch aufgrund seiner ihm innewohnenden Würde ein Recht darauf hat, am politischen Geschehen teilzuhaben, so besteht durch ein Grundeinkommen die Möglichkeit, jedem Menschen die ökonomischen Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Partizipation zu garantieren.

Ein Grundeinkommen nimmt den Menschen Existenzängste und macht Bildung unabhängig von der Herkunft möglich. Die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern würde gestärkt. Die Beschäftigten könnten Nein zu Lohndumping und schlechten Arbeitsbedingungen sagen. Kindererziehung, Pflege von Angehörigen oder ehrenamtliches Engagement erführen mehr Anerkennung als wichtige Arbeit für unsere Gesellschaft: alles Formen von Arbeit, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, aber heute zu wenig gewürdigt werden. Ein Grundeinkommen kann hier zu einer neuen Form der Vollbeschäftigung führen.

Die SPD hat sich bisher kaum an der Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen beteiligt. Das muss sich jetzt ändern. Die SPD im Rhein-Erft-Kreis hat sich als erster Kreisverband für ein bedingungsloses Grundeinkommen ausgesprochen. Jetzt entwickeln wir ein eigenes sozialdemokratisches Modell. Grundeinkommen und SPD passen zusammen. Die SPD muss den Mut aufbringen, neue Ansätze zu denken. Dann wird sie die Partei der sozialen Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert bleiben.

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Contra: Michael Kumpfmüller, Schriftsteller und SPD-Unterstützer

Die Verführung zum Kurswechsel ist für die Sozialdemokraten natürlich groß. Hartz IV? Agenda 2010? Na gut, könnte sich die SPD sagen, unter Schröder haben wir diese bösen Reformen gemacht, denn damals waren wir leider an der Regierung. Aber jetzt, in der Opposition, wissen wir es besser und zeigen endlich die Reue, die eine infam populistische "Linke" und die durch eine Flut von Armutsreportagen verängstigten Mittelschichten verlangen.

Was aber sind die Fakten? Erstens: Da unser Armutsbegriff relativ ist, so kürzlich erfrischend knapp Klaus Hartung in der Zeit, gibt es eine Zunahme an Armut nicht trotz, sondern wegen des steigenden Lebensstandards. Zweitens: Angesichts der allgemein bekannten demografischen Entwicklung sind die bestehenden Sozialstandards auf Dauer ohne Reformen nicht zu halten, außer man macht auf Kosten kommender Generationen immer weiter immer neue Schulden. Wer letzteres für verwerflich hält (und das ist es!), muss den Mut zu unbequemen Reformen (Stichwort Rente mit 67) haben.

Genau diesen Mut hat die Regierung Schröder 2002 gehabt - wobei die kaum bekannte Pointe ironischerweise darin besteht, dass die Sozialausgaben seither nicht etwa gesunken sind, sondern sich fast verdoppelt haben.

Kurz: Die Aufregung um Hartz IV ist nicht nur die gelungenste Propagandaaktion der jüngeren deutschen Geschichte, sondern schlimmer noch: eine gesellschaftliche Form von Realitätsflucht. "Reichtum für alle" als politische Forderung gelten zu lassen und am Ende jene abzustrafen, die darauf beharren, dass die Dinge leider etwas komplizierter sind, war am letzten Sonntag deshalb im Grunde dasselbe.

Nun ist die SPD in der Opposition und weiß fürs Erste nicht weiter. Statt sich für Hartz IV zu schämen und verstohlen nach neuen Bündnispartnern Ausschau zu halten, sollte sie (endlich wieder) unerschrocken und streitbar die Fortentwicklung des europäischen Sozialstaats vorantreiben, nicht ohne dabei konsequent all jenen zu widersprechen, deren "Politik" darin besteht, die altbekannten Wunsch- und Wutmaschinen am Laufen zu halten.

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