Kommentar Armutsbericht: Opfer zu Heulsusen

Die Bundesregierung versucht hartnäckig, die soziale Lage in Deutschland aufzuhübschen. Letztlich wird damit suggeriert, dass sich viele Arme ihre Armut nur einbilden. Aus Opfern werden Heulsusen.

Wie verbreitet ist die Armut in Deutschland? Das ist weiterhin eine Definitionsfrage - man könnte auch sagen, es bleibt eine Machtfrage. Jedenfalls ist auch in der überarbeiteten Version des Armuts- und Reichtumsberichts festzustellen, dass die Bundesregierung ihre Daten sehr freizügig und parteiisch auslegt. Wieder werden vor allem jene Statistiken hervorgehoben, die am besten zu belegen scheinen, dass "der Sozialstaat wirkt". Nur 13 Prozent der Deutschen seien arm, behauptet die Regierung deshalb jetzt.

Diese Schönfärberei ist für Leser allerdings leicht zu entdecken: Ganz ließ sich nämlich im Statistikteil des Berichts nicht übergehen, dass andere Erhebungen wie das sozioökonomische Panel (SOEP) auf ein Armutsrisiko von 18 Prozent kommen. Trotzdem ist es nicht harmlos, dass die Bundesregierung so hartnäckig versucht, die soziale Lage in Deutschland aufzuhübschen. Letztlich wird damit suggeriert, dass sich viele Arme ihre Armut nur einbilden. Aus Opfern werden Heulsusen.

Noch perfider wirkt diese Strategie, wenn die Regierung ihre Aufschwungsbehauptungen gar nicht erst mit Zahlen untermauert. Eine falsche Statistik lässt sich meist noch entlarven, doch ohne jeden Anhaltspunkt wird es schwierig. So wird im Armutsbericht mehrfach triumphierend herausgestrichen, dass inzwischen 40,1 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig seien. Auch ganz viele Arbeitslose, Migranten und Frauen würden nun zu neuen Jobs finden. Und natürlich, wie könnte es anders sein, sei dies direkt auf die Hartz-IV-Reformen zurückzuführen.

Das klingt so schön, dass gar nicht auffällt, dass die seltsame Kehrseite dieses Rekords komplett übergangen wird: Im Januar 2008 erhielten immer noch 5,135 Millionen erwerbsfähige Hilfsbedürftige Arbeitslosengeld II. Hinzu kamen 1,12 Millionen, die Arbeitslosengeld I bezogen. Und weitere 538.000 waren arbeitslos, ohne eine staatliche Unterstützung zu empfangen. Das macht knapp 7 Millionen Menschen, die sich irgendwie im Umfeld der Arbeitsagenturen aufhalten. Der Clou: Im Februar 2005 waren es etwa genauso viele. Damals betrug die Arbeitslosigkeit jedoch offizielle 14,1 Prozent; inzwischen ist sie auf märchenhafte 7,8 Prozent im Mai gesunken.

Statistiken sind eben sehr geduldig. Auch der Direktor des IAB, des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit, sah sich kürzlich gezwungen, die Regierung öffentlich zu kritisieren: "Da wird an der Statistikschraube gedreht." Doch nützen wird dies nichts. Klar ist nur, dass Arbeitslosigkeit in die Armut führt. Aber wer als arbeitslos zählt und wer als arm, das bleibt eine Frage der Macht.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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