Debatte Postkapitalismus (X): Sparen ist keine Lösung

Bei uns herrscht die Meinung vor, der Staat sollte keine Schulden machen. Doch eine Volkswirtschaft ist kein privater Haushalt.

Sparsamkeit ist keine Tugend an sich. Im Gegenteil, der Staat soll sich verschulden. Was zunächst wie eine linke Idiotie klingen mag, ergibt sich je nach Vorliebe aus dem "Kapital" von Karl Marx oder aus der "Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" des Statistischen Bundesamts.

In Deutschland sind Ökonomie und Politik gewöhnlich besonders hausväterlich ausgerichtet. Schulden sind danach modernes Teufelswerk und gefährden kommende Generationen. Doch in der jetzigen Weltwirtschaftskrise ahnen selbst Neoliberale, dass eine Volkswirtschaft kein privater Haushalt ist.

Andernorts ist man schon im Alltag weniger pingelig. Während im Euroraum der willkürlich festgesetzte Wert von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Ultima Ratio gilt, leistet sich Japan einen dreimal so hohen Schuldenberg. Schweden und Großbritannien puschten in den Neunzigerjahren erfolgreich ihre Wirtschaft mit rasant wachsenden Staatsschulden. Wo "Maastricht" im Euroland eine Neuverschuldung von höchstens drei Prozent erlaubt, legte London schon mal acht Prozent drauf und Stockholm schreckte vor zwölf Prozent nicht zurück. Auch auf die jetzige Weltwirtschaftskrise wird in vielen Ländern weit radikaler als von der großen Koalition in Berlin mit einem dicken Plus an Staatsverschuldung reagiert. Zu Recht. Natürlich sind die Schulden anderer Länder kein durchschlagendes Argument. Aber der Blick über die Grenze zeigt: Der reale Kapitalismus kennt viele Varianten.

Damit kommen wir zum Eigentlichen: "Der Staat soll sich verschulden!" Und dieser Leitsatz gilt keineswegs nur in schlechten Zeiten, in denen der Staat antizyklisch gegensteuert. Selbst in guten Zeiten sollte der Staat als die Reparaturwerkstatt des Kapitalismus Kredite aufnehmen oder zusätzliche Einnahmen erzielen, um ein unheilvolles Nachfrageloch in der Volkswirtschaft zu verhindern.

Stellen wir uns der Einfachheit halber die bundesdeutsche Volkswirtschaft als ein in sich geschlossenes Modell "Deutschland" mit drei Akteuren vor: Bürger, Unternehmen und den Staat. Die Einnahmen und Ausgaben der drei sollten sich gegenseitig ausgleichen. Wo Gewinn und Erspartes übrig bleiben, müssten andere Akteure sich dieses Geld leihen, um damit Konsum und Investitionen zu finanzieren. Dann liefe es im Modell rund.

Die Realität sieht anders aus. Die Bundesbürger sparen durchschnittlich um die zehn Prozent ihres Einkommens. 2008 waren das nach den vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamts mehr als 180 Milliarden Euro. Dieses Geld fehlt im realen Wirtschaftssystem des Modells "Deutschland" als Nachfrage. Sparen ist keineswegs immer tugendsam.

Dieses "überflüssige" Geld könnte sich theoretisch die Wirtschaft leihen und im "Modell Deutschland" investieren. Tut sie aber nicht, weil sie selber Geld im Überfluss als Gewinn "produziert". Die Wirtschaft verbraucht nämlich nicht ihren gesamten Profit. 2008 sparte sie so über 80 Milliarden Euro. Weiteres Geld, das der realen Volkswirtschaft als Nachfrage fehlt.

Zusammen legten investitionsschwache Unternehmen und wohlhabende Bürger also rund 260 Milliarden Euro zurück. Geldkapital, das dem "Modell Deutschland" faktisch entzogen wird und nutzlos für dessen Realwirtschaft in Finanzanlagen außerhalb des Modells verschwindet. Das von Wirtschaft und Privaten Angesparte reißt so ein tiefes Nachfrageloch in unserer Volkswirtschaft.

Dass dieses ersparte Nachfrageloch nicht nur in einem Jahr entsteht, sondern Übersparen ein grundsätzliches Problem darstellt, belegt ein Blick in die historischen Reihen der "volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" oder ins "Kapital": Marx zeigt dort recht anschaulich, wie das Kapital einen Mehrwert produzieren lässt, den weder die Arbeiter und Angestellten erhalten, noch der Kapitalist vollständig verkonsumiert.

Um diesen 260 Milliarden großen Mehrwertkuchen, der dem "Modell Deutschland" zu entgehen droht, richtig zu vernaschen, muss der Staat sich diesen Kuchen schnappen, um ihn wieder in das realwirtschaftliche Leben einzuspeisen. In kleinen Stücken tut er dies, doch 2008 waren es keine zwölf Milliarden Euro. Und selbst in den Jahren 2002 bis 2005, mit extrem hoher Neuverschuldung, blieb der Großteil des Kuchens ungenutzt auf dem Finanzmarkt liegen und vergammelte. Das wird auch in diesem Krisenjahr so bleiben. Selbst nach der niedrigen Steuerschätzung vom Donnerstag will sich die Bundesregierung nur rund 50 Milliarden Euro neu pumpen. Mehr wäre besser.

Das Nachfrageloch

Übrigens bewirken Kapital und Reiche mit ihren "Finanzierungsüberschüssen", wie sie der Sachverständigenrat nennt, nicht allein im "Modell Deutschland", sondern auch im Modell "Weltwirtschaft" ein Ungleichgewicht. War noch um 1980 die weltweite Realwirtschaft der Finanzwirtschaft quantitativ mit 2:1 überlegen, so ist sie heute mit 1:3 deutlich unterlegen.

Eine Null-Defizit-Politik des Staates wäre daher keineswegs die beste aller Lösungen. Stattdessen sollte er sich auf die "schwierige Gratwanderung" begeben zwischen der wirtschaftlich zweckmäßigen jährlichen Verschuldung und der langfristigen Überschuldung durch den exponentiellen Zinseszinseffekt. Dass eine solche Gratwanderung erfolgreich möglich ist, beschreibt der Wirtschaftswissenschaftler Karl Mai in der "Berliner Debatte Initial" eindrucksvoll.

Dabei wird es in Zukunft nicht egal sein, ob der Staat sich den Kuchen auf Pump oder durch (Steuer-)Einnahmen verschafft. Und es ist auch nicht egal, ob das Geld in totes Kapital wie die neuen Marathonkriegsschiffe F125 fließt oder ob das Übersparte in Infrastrukturprojekte, wie die Bildung, und in einen staatlichen Beschäftigungssektor mit erheblichem Multiplikatoreffekt für die Volkswirtschaft investiert wird. Die zentrale politische Zukunftsfrage ist daher nicht, Staatsverschuldung ja oder nein, sondern für was und für wen wird das von Wirtschaft und Privaten Übersparte vom Staat eingesetzt? Aber das ist dann ein anderes Debattenthema.

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Soziologe und promovierter Wirtschaftswissenschaftler. Spezialgebiete: Banken/Versicherungen/Finanzmärkte und maritime Industrie. Arbeitet seit 1995 als freier Wirtschaftspublizist in Hamburg. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt „Gewinn ist nicht genug! 21 Mythen über die Wirtschaft, die uns teuer zu stehen kommen“, Rowohlt Verlag, Reinbek 2021.

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