Debatte Schulsystem: Unsichtbare Klassenschranken

Kinder aus bildungsfernen Schichten haben bei gutbürgerlichen Lehrern wenig Chancen - selbst wenn sie gute Leistungen bringen. Das belegt leider jede Pisa-Studie neu.

Wer lesen kann, dem erschließt sich die Welt. Es ist daher gut, dass die Kinder in deutschen Grundschulen besser lesen können als noch vor sechs Jahren - gut für jedes einzelne Kind und gut für die ganze Gesellschaft.

Viel mehr Erbauliches allerdings bieten die Ergebnisse von Iglu und Pisa, den aktuellen Studien zur Schülerkompetenz, nicht. Sie sind nämlich vor allem eines: entlarvend. Als hohl entpuppt sich eine Begabungsideologie, die auf dem Versprechen fußt: Wer viel kann, bringt es auch weit. Denn dieses Versprechen hat das deutsche Bildungssystem bislang nicht eingelöst. In seiner Grundstruktur ist es darauf angelegt, die Privilegien einer akademisch gebildeten Elite vor den Bildungsansprüchen so genannter bildungsferner Schichten zu schützen.

Der konservative Charakter der deutschen Schulen offenbart sich vor allem in einem dreigliedrigen System, das von den Lehrkräften in einem sehr frühen Stadium verlangt, vermeintlich geeignete von ungeeigneten, gute von schlechten, passende von unpassenden Schülerinnen und Schülern zu unterscheiden. Leistung spielt bei dieser Auswahl gewiss eine Rolle, entscheidender ist das durch die Familie weitergegebene kulturelle Kapital - das Wissen darüber, wie man sich in der Schule und gegenüber Lehrerinnen und Lehrern richtig verhält. Man muss die richtigen Verhaltensregeln kennen, um in der Schule erfolgreich zu sein, so die unangenehme Botschaft von Iglu und Pisa.

Diese Regeln zu beherrschen, ist schwer für Schüler, die nicht dem selben sozialen Milieu wie ihre Lehrer entstammen - und das gilt für den überwiegenden Teil der Kinder aus nichtakademischen Familien. Sie verhalten sich in den Augen der Lehrer schnell "daneben" und wirken je nach Situation ungehobelt oder anbiedernd, frech oder schüchtern. Kurz: Sie treffen nicht den richtigen Ton. Ähnlich geht es den Eltern dieser Kinder, die sich oftmals nicht bewusst sind, wie wichtig der enge und regelmäßige Umgang mit Lehrerinnen und Lehrern ist. Falls aber doch, hindert sie nicht selten eine Mischung aus sozialer Fremdheit, intellektueller Unterlegenheit oder vermeintlich mangelndem Ausdrucksvermögen, den Kontakt offensiv und in einer für die Kinder vorteilhaften Art und Weise zu suchen. Es sind diese in den Worten des Bildungssoziologen Klaus Kraemer so eminent wichtigen "Sekundärtugenden", die den Unterschied in der Bildungslaufbahn ausmachen, und die sind meist milieuspezifisch.

Die meist nicht bewusst intendierte Diskriminierung von Kindern aus armen Familien wird noch verstärkt durch die Institution der Halbtagsschule. Ihr liegt das antiquierte Ideal der klassisch bürgerlichen Familie mit einem arbeitenden Vater und einer nicht arbeitenden Mutter zugrunde. Während der Vater das notwendige Geld verdient, hat die Mutter Zeit, für die schulische Förderung der Kinder zu sorgen und die Kontakte zu Lehrerinnen und Lehrern zu pflegen. Der jüngst vorgelegte Familienbericht des Mikrozensus belegt, wie weit entfernt von der sozialen Realität dieses Familienmodell ist. Das Festhalten an einer Schulform, die Familien dieses Zuschnitts begünstigt, verfestigt die ohnehin bestehenden Benachteiligungen.

Angesichts dieses Befunds verwundert es nicht, dass Eltern aus nichtakademischen Milieus ihren Kindern laut Iglu-Studie den erfolgreichen Übergang ins Gymnasium nur bei überdurchschnittlich guten Leistungen zutrauen. Das hat sicher auch etwas mit geringer Bildungsmotivation zu tun. Viele dieser Eltern verfügen aber über ein gutes Gespür für die unsichtbaren Klassenschranken, die ihre Kinder in einem akademisch geprägten Setting überwinden müssen. Das Stigma des Außenseiters kann nur kompensieren, wer mit besonders guten Leistungen aufwartet. Man kennt diesen Mechanismus aus der Genderdebatte, der Rassismusforschung ebenso wie aus den Diskussionen um die Aufstiegschancen von Kindern aus Einwandererfamilien.

Jüngste Studien zeigen übrigens, dass Migrantenfamilien im Unterschied zu deutschen Familien aus vergleichbarem Milieu eine hohe Bildungsmotivation aufweisen. Sie wünschen für ihre Kinder den sozialen Aufstieg, auch weil mit der Migration der Traum von einem besseren Leben verbunden ist. Nur verfügen sie meist nicht über das nötige kulturelle Kapital, um diesen Wunsch in erfolgreiche Bildungskarrieren umzusetzen. Die wenigen, die erfolgreich sind, überwinden die institutionellen Hürden, weil sie die Migrationsgeschichte der Eltern als Verpflichtung zum Erfolg ansehen und besonderen Ehrgeiz und Aufstiegswillen entwickeln. Sicher können sie Vorbild für die nachwachsende Migrantenjugend sein, ihre Biografien sind aber Erfolgsgeschichten nicht wegen, sondern trotz des existierenden Schulsystems.

Auf die strukturellen Widersprüche des deutschen Bildungssystems wurde in den vergangenen drei Jahren mit einigen vielversprechenden Reformen reagiert. So startet in Berlin im kommenden Schuljahr eine dreijährige Pilotphase zur Einführung der Gemeinschaftsschule. Dabei fällt auf, dass die Schulen aus den sogenannten Problemkiezen den größten Mut beweisen und mit Konzepten antreten, die das traditionelle Verständnis der Schule als Anstalt bloßer Wissensvermittlung aufbrechen.

Im Campus Rütli zum Beispiel sollen Kinder und Jugendliche aus Grund-, Haupt-, und Realschule gemeinsam lernen. Geöffnet hat die Schule von 6 bis 21 Uhr, sodass eine intensive nachschulische Betreuung und Unterstützung bei Hausaufgaben gewährleistet ist. Aber nicht nur das, gemeinsam sollen der umliegende Sozialraum gestaltet, Musik und Kunst produziert und in den benachbarten Betrieben handwerkliche Grundkenntnisse vermittelt werden.

Noch ist der Campus Rütli nicht Realität. Man kann sich aber vorstellen, welche kreative Dynamik ein in dieser Weise offener und flexibler Raum freisetzt. Kinder und Jugendliche haben die Möglichkeit, auf unterschiedlichen Gebieten ihre Talente zu erproben und Anerkennung zu erhalten. Gleichzeitig wird die oftmals fehlende Unterstützung zu Hause durch die ganztags geöffnete Schule kompensiert. Vor allem aber müssen Lehrerinnen und Lehrer nach der Grundschule nicht diejenigen aussortieren, die zwar begabte Musiker sind, aber noch nicht perfekt Deutsch sprechen.

Die milieuspezifische Selektivität des Bildungssystems werden weder Gemeinschaftsschulen noch Lesepatenprogramme gänzlich aufheben können. Trotzdem muss man von Schulen erwarten können, dass sie die Auswirkungen sozialer Herkunft auf Bildungslaufbahnen eindämmen und entsprechende pädagogische Konzepte entwickeln. Ein Schulsystem, das soziale Ungleichheiten festigt oder gar verstärkt, verliert seine demokratische Legitimation und muss grundlegend reformiert werden. Dabei sollte man sich über das Beharrungsvermögen der Bildungseliten jedoch keine Illusionen machen. An den Gemeinschaftsschulen in Berlin beteiligen sich übrigens keine Gymnasien.

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