Ehrenrettung für den Grippe-Wirt: Schweine wie wir

Schweine sind besser als ihr Ruf. Und sie sind dem Menschen nah, im Guten wie im Bösen. Anziehung und Abstoßung bestimmen das Verhältnis des Menschen zum Schwein.

Süßes "Schweinchen Babe" oder Repräsentant des Schweinesystems? Ferkel in Bobingen. Bild: dpa

Schweine sind wieder in Verdacht geraten: als Wirte und Überträger gefährlicher Krankheitserreger. Insgeheim gelten sie immer noch als unreine Tiere, die sich gern im Dreck suhlen. Diese Wahrnehmung wird weder durch Filme wie "Schweinchen Babe" noch durch George Clooneys gern kommentierte Zuneigung zu seinem Hausschwein Max (das im Dezember 2006 im Alter von 18 Jahren verstorben ist) irritiert. Nicht einmal Nachrichten über medizinische Experimente mit der Transplantation von Schweineorganen oder über die bis 2005 praktizierte Verabreichung von Schweineinsulin an Diabetiker können ein Misstrauen reduzieren, das schon durch den Ausdruck Schweinegrippe erweckt wird.

Wer eine Genealogie der Ambivalenz entwerfen wollte, eine Geschichte der Faszination schlechthin - denn Faszinationen entspringen dem Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung -, müsste die Chronik der Beziehungen zwischen Schweinen und Menschen darzustellen versuchen. Kein Tier verkörpert vollkommener, in denselben Kulturen und Epochen, den Widerspruch zwischen Glück und Unglück, Reichtum und Armut, Genuss und Gier, Intelligenz und Dummheit, Leidenschaft und Trägheit, Sauberkeit und Schmutz. Schweine können die Autoritäten symbolisieren: Polizisten und andere Repräsentanten des "Schweinesystems"; zugleich sind sie seit dem Altertum geradezu prädestinierte Opfertiere. Strategien der Identifikation und der Ausschließung, der Idealisierung und Abwehr überlagern einander mit erklärungsbedürftiger Verlässlichkeit.

Nicht alle Tiere sind den Menschen gleichermaßen nahe. Manche Tiere - Rinder, Esel oder Pferde - werden gezähmt und in Dienst genommen; andere Tiere werden dagegen respektiert und gelegentlich kultisch verehrt, etwa weil sie uns selbst zur Beute machen können. Raubtiere betreten als Erscheinungen der Macht und Stärke, aber auch als Verkörperungen düsterer Fremdheit die Bühnen menschlicher Einbildungskraft. Kein Tier jedoch blieb während mehrerer Jahrtausende so vielfältig interpretierbar, so vertraut und fern zugleich wie die Schweine.

In manchen Kulturen, vom alten Ägypten bis nach Indonesien und China, wurden schon die Ferkel zärtlich gefüttert oder von menschlichen Ammen gesäugt; im Nahen Osten dagegen, in der jüdischen wie in der islamischen Religion, ist der Genuss von Schweinefleisch streng verboten. Im Zyklus der babylonischen Tierkreiszeichen kommen die Schweine nicht vor; in China wurde erst 2007 das letzte Jahr der Schweine gefeiert.

Schweine gelten im Fernen Osten als ehrliche Tiere; Menschen, die in Schweinejahren geboren wurden, sollen sich durch Toleranz, Vertrauen, hohe Moral und ritterliche Tugenden auszeichnen. Doch was im Fernen Osten als wertvoll angesehen wird, bildet in der europäischen Kulturgeschichte leicht einen Anlass zu Schimpf und Spott.

Obwohl noch im Mittelalter zahlreiche Wappen und Ortsnamen die Identifikation mit dem Schwein - zumindest mit dem männlichen Eber - bezeugen, wurden im 15. und 16. Jahrhundert vorgeblich zänkische oder geschwätzige Frauen mit eisernen Schandmasken in Schweinegestalt an den Pranger gestellt. Und während die asiatische Glückssymbolik der Schweine auch im Abendland Fuß fasste, verbreiteten sich zur selben Zeit zahllose Schimpfworte in den verschiedensten Dialekten und Sprachen Europas, in denen das "Schweinische" mit Schmutz, Gier, Dummheit oder zügelloser Sexualität assoziiert wurde, um bald zur einer allgemeinen Chiffre des Bösen zu werden: "Entweder Mensch oder Schwein", dazwischen gebe es nichts, schrieb das RAF-Mitglied Holger Meins kurz vor seinem Hungerstreiktod 1974.

Entsprechend widersprüchlich sind die überlieferten Sprichworte und Redensarten. So wird in Luthers Tischreden eine derbe Beschimpfung mit dem Ausdruck "jemand eine Sau geben" - heute würden wir sagen: "jemand zur Sau machen" - umschrieben; "dans le cochon tout est bon" ("vom Schwein ist alles gut"), heißt es dagegen im Französischen. "Swine, women and bees cannot be turned", sagen die englischen Bauern, und die deutschen: "Schweine, Bienen und Weiber machen viel Not dem Treiber."

Signifikant ist, dass sich die meisten Sprichworte gar nicht auf Schweine beziehen, sondern auf Menschen. Wer etwa nach anfänglicher Besserung seine schlechten Angewohnheiten wieder aufnimmt, wird mit dem Satz gerügt: "Das Schwein wälzt sich nach der Schwemme wieder im Kot." Und wer über schlechte Nachrede grübelt, hört vielleicht die Redewendung: "Man verklagt keine Sau, die einen besudelt." Wer mit Fleiß und ohne viel Aufhebens seine Arbeit erfolgreich verrichtet, kann dagegen mit dem Ausspruch gelobt werden: "Stille Schweine wühlen die größten Wurzeln aus."

Andere Beispiele für alltägliche Redensarten hatten ursprünglich gar nichts mit Schweinen zu tun. Der Ausruf "Ich habe Schwein gehabt" lässt sich vermutlich auf Kartenspiele zurückführen, in denen das Trumpf-Ass "Sau" genannt wurde. Der Satz "Das kann kein Schwein lesen" bezieht sich angeblich auf eine Gelehrtenfamilie namens Swyn, die im 17. Jahrhundert in Schleswig lebte. Die Bauern der Umgebung kamen mit Briefen und Urkunden zu der hilfsbereiten Familie, um sich die Schriftstücke vorlesen oder abfassen zu lassen. Wenn selbst ein Angehöriger dieser Familie eine unleserliche Schrift nicht entziffern konnte, hieß es: "Dat kann keen Swyn lesen!" Die Familie wurde vergessen, im Gegensatz zum lesekundigen Schwein; vielleicht hat sich aus dieser Redensart die spätere Charakterisierung einer schwer lesbaren Handschrift als "Sauklaue" ergeben.

Die Schweine sind den Menschen nah, im Guten wie im Bösen; als Tiere sind sie geradezu Doppelgänger der Menschen: So erklären sich "Saupreußen", "Schweinepriester", "Frontschweine" oder "Pistensäue" wie von selbst. Schon physiologisch sind Hausschweine und Menschen einander ähnlich, was sich nicht nur in vergleichbaren Krankheitsausprägungen zeigt, sondern auch in der rosigen Hautfarbe, in Struktur und Beschaffenheit des Fleisches. Schweine fressen, was wir fressen; sie gelten als unmittelbare Nahrungskonkurrenten der Menschen. Ehemals wurden in der Gerichtsmedizin die Stich- und Schussverletzungen an frischgeschlachteten Schweinen nachgestellt; in Fernsehserien über Intensivstationen und Notoperationen nimmt man Schweinehälften, um die verletzten und verunglückten Menschenkörper zu zeigen, während das Handwerk der Tätowierung an Schweinehäuten geübt wird.

In seinem Manifest "Der Tod der Familie" von 1971 bemerkte David Cooper, der Pionier der Anti-Psychiatrie-Bewegung: "Natürlich sind Menschen Schweine. Und menschliche Institutionen sind natürlich Schweineställe." Was aber heißt hier "natürlich"? Zwar ist kaum ein Alltagsgegenstand vorstellbar, der nicht die Form eines Schweins annehmen, kaum ein Gedanke, der keine Schweinemetaphern zitieren könnte, doch bleibt die Verwechselbarkeit von Schweinen und Menschen - "Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch" (Gottfried Benn) - im Grunde ein Rätsel.

"Ich liebe Schweine", bekannte die Autorin Cora Stephan in den "Memoiren einer Schweinezüchterin": "Sie sind klug wie Delphine, zart und ausdauernd in der Liebe und sensibel genug, um es nicht mit jedem oder jeder zu treiben. Sie sind verspielt und genusssüchtig, frech und anhänglich (…) und wären des Menschen bester Freund, erschräke dieser nicht vor seiner Ähnlichkeit mit dem sprachgewandten Borstentier. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ähnlichkeit zu erbitterter Feindschaft geführt hätte."

Doppelgänger werden stets energisch bekämpft. Oft genug symbolisiert die Begegnung mit dem Doppelgänger die Drohung des eigenen Todes: Wie passend, dass die Schweinegrippe - im Gegensatz zur Vogelgrippe - von Mensch zu Mensch übertragen werden kann!

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