Sinkende Suizidrate: Abzweigung statt Abgrund

Die Zahl der Selbsttötungen ist in den letzten 25 Jahren um die Hälfte gesunken. Auch, weil es schwieriger geworden ist, sich das Leben zu nehmen.

Melancholie ("Dicker Mann" von Ron Mueck") muss nicht tödlich sein Bild: ap

Die Mitarbeiter von Marion Bohn sind Spezialisten. Für Stimmen und Stimmungen am Telefon. Wie ein Mensch spricht, atmet, Worte wählt und zusammenfügt und wie man daran erkennt, ob er verzweifelt, wütend oder einsam ist, "darauf sind unsere Berater geschult", schildert Bohn, 41 Jahre alt, Psychiaterin und Leiterin des Berliner Krisendienstes Region Nord.

Der Krisendienst gehört zu einem Netz von Berliner Beratungsstellen, die Verzweifelte in einer Millionenstadt auffangen und rund um die Uhr telefonisch erreichbar sind. Krisendienste gelten Experten als einer der Gründe, warum die Zahl der Selbsttötungen in Deutschland auch nach den jüngst vorgestellten Zahlen des Statistischen Bundesamtes weiter zurückgeht - von 10.260 Fällen im Jahre 2005 auf 9.765 im vergangenen Jahr. "Das ist ein Phänomen mit der sinkenden Suizidrate", sagt Bohn, "eine tolle Entwicklung".

Der Langzeitvergleich ist noch beeindruckender: Im Jahre 1980 hatten sich in Deutschland (West und Ost) insgesamt noch 18.450 Menschen das Leben genommen, die Zahl hat sich also inzwischen fast halbiert. Und das, obwohl die Medienberichterstattung über Sterbehilfe, jugendliche Amokläufer und Suizidforen im Internet den Eindruck erweckt, als wäre die Selbsttötung ein zunehmend verbreitetes gesellschaftliches Phänomen.

Das Gegenteil aber ist der Fall. Eine verbesserte psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung, aber auch "ganz pragmatische Veränderungen tragen dazu bei", sagt Michael Witte, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS). Experten nennen das sachlich "Methodenreduktion". So strömt aus den Haushaltsleitungen in den alten Bundesländern schon lange kein giftiges Gas mehr, in den 90er-Jahren wurde das Haushaltsgas auch in den neuen Bundesländern auf eine giftfreie Substanz umgestellt. Barbiturate werden nicht mehr verordnet. Nerven- und atembeeinflussende Medikamente, deren Einnahme in Überdosis zum Tod führt, bekämen Patienten "heute nur noch in kleinen Packungsgrößen verschrieben", erklärt Witte.

"Wer Suizidgedanken äußert, macht es am Ende doch nicht." Falsch. Den meisten Selbsttötungen gehen Andeutungen voraus. Sätze wie "Ich schaffe alles nicht mehr", "Es hat doch alles keinen Sinn mehr", sind immer ernst zu nehmen.

"Einen Menschen auf mögliche Suizidgedanken anzusprechen, sollte man unterlassen. Das bringt ihn nur auf dumme Gedanken." Falsch. Hoch depressive und verzweifelte Menschen sind oft erleichtert, wenn sie über ihre Selbsttötungsfantasien reden können. Nicht zuletzt deswegen ernten die einschlägigen Internetforen ja so regen Zuspruch.

"Die meisten Suizidversuche sind sowieso nicht ernst gemeint." Nach Schätzungen stehen einer vollzogenen Selbsttötung zehn bis 15 Versuche gegenüber. Nach internationalen Statistiken machen 20 bis 30 Prozent der Menschen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, noch mal einen innerhalb der folgenden drei Jahre. Zehn Prozent der Betroffenen stirbt innerhalb der drei Jahre nach dem ersten Versuch. Bei wem sich Suizidfantasien weiter entwickeln oder wieder abbauen, kann man also nicht von vorneherein sagen.

"Männer bringen sich öfter um als Frauen." Allerdings. Von den 9.765 Selbstgetöteten im Jahre 2006 in Deutschland waren 7.225 Männer. Männer wählen auch häufiger sogenannte harte Methoden wie Erhängen, Erdrosseln oder Ersticken." Im internationalen Vergleich sind die Suizidraten bei den Männern in Litauen und Lettland besonders hoch. Dort führen Experten die hohen Zahlen unter anderem auf die wirtschaftlichen Umbrüche zurück, die von Männern angesichts des herrschenden starren Männlichkeitsbildes nicht bewältigt werden können, zumal die psychiatrische Versorgung in diesen Ländern schlecht und Alkoholismus verbreitet ist.

"Die Zahl der Suizide bei älteren Menschen nimmt zu." Die Selbsttötungsrate unter Senioren war schon immer relativ hoch. Da es zudem mehr ältere Menschen gibt, steigt der Anteil der Älteren unter den Selbstgetöteten. Bei den Frauen ist inzwischen jede zweite Suizidierte über 60 Jahre alt.

"Vor allem in der dunklen Jahreszeit nehmen sich Menschen das Leben." Falsch. Im Mai und Juli bringen sich besonders viele Leute um, im Dezember und Januar dagegen sind die Zahlen vergleichsweise moderat. Gerade im Frühling nämlich, wenn es überall sprießt und gedeiht, fühlen viele Depressive ihre Schwermut, da sie sich dann besonders abgetrennt von der "erwachenden" Welt empfinden.

"Ein Suizid ist eine freie Entscheidung eines Menschen für ihn ganz allein. Man sollte ihm diese Freiheit lassen." Von einer Selbsttötung sind im Durchschnitt sechs Angehörige und FreundInnen mitbetroffen, die Trauer und Schuldgefühle bewältigen müssen, schätzt die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention. Bei 65 bis 95 Prozent aller Suizide wird eine depressive Erkrankung als Ursache vermutet. Auch psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie erhöhen das Risiko einer Selbsttötung beträchtlich. Von einer freien Entscheidung kann also eher nicht die Rede sein. BD

Georg Fiedler, Sekretär des im Jahre 2002 gestarteten Nationalen Suizidpräventionsprogrammes in Deutschland, verweist zudem auf "Fortschritte in der Medienberichterstattung". Auf Initiative der Experten aus dem Präventionsprogramm änderte die Polizei bundesweit ihre Informationspolitik. "Seit einigen Jahren verzichten wir darauf, Suizide im öffentlichen Nahverkehr aktiv in den Polizeibericht aufzunehmen", erklärt Uwe Kozelnik, Sprecher der Berliner Polizei. Als die Wiener Medien 1987 per Selbstverpflichtung beschlossen, nicht mehr über Selbsttötungen in der dortigen U-Bahn zu berichten, sank die Zahl der U-Bahn-Suizide in der österreichischen Hauptstadt um mehr als 70 Prozent und blieb seitdem auf niedrigem Niveau. Das regte auch in Deutschland zum Umdenken an.

Medien sollen "jede personalisierte Berichterstattung über Suizide" vermeiden, so Fiedler. Ganz oben auf der "Dont"-Liste der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention stehen Artikel und Fernsehbeiträge, die "den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion" darstellen, heißt es in einem Merkblatt der Präventionsgesellschaft für die Medien. Wenn die Selbsttötung gar romantisierend dargestellt wird ("im Tod mit seiner Liebsten vereint"), gehen bei den Fachleuten rote Warnlampen an.

Amokläufe von Jugendlichen mit anschließendem Suizid seien zwar vor allem ein mörderischer Akt, meint Fiedler. Aber auch hier berge die personalisierte Berichterstattung, etwa über den vereinsamten Täter, der für die Soziologen posthum zum interessanten Forschungsobjekt wird, die Gefahr der Identifikation. "Für einige wenige kann das dann als Modell erscheinen, auch so etwas zu tun", meint Fiedler.

Eine Berichterstattung über seelische Probleme, die diese als weniger stigmatisierend erscheinen lassen, wird von den Präventionsspezialisten jedoch begrüßt. "Psychothemen sind in bei den Medien", sagt Krisenberaterin Bohn, "und das hilft auch der Suizidprävention." In Zeiten, in denen in Fernsehtalkshows Mobbingopfer auftreten, Manager offen über ihre Burn-out-Symptome berichten und in kitschigen Daily Soaps die Hauptdarsteller über ihre Depressionen reden, ist es nicht mehr so schlimm, auch sich selbst zu den Labilen zu zählen.

Gerade für Männer, die sich dreimal so häufig umbringen wie Frauen, ist die "weiche Welle" ein Segen. Männer werden nicht selten depressiv, "wenn sie glauben, ein bestimmtes Bild von Männlichkeit nicht erfüllen zu können", erzählt Bohn aus ihrer Beratungspraxis. "Zu merken, dass es anderen genauso geht, ist da schon eine Befreiung." Die Zahl der Suizide bei den Männern ist prozentual allerdings weniger stark gesunken als bei den Frauen.

Die viel gerügten Internetforen, in denen sich Menschen über ihre Suizidgedanken austauschen, betrachtet Bohn nicht unbedingt als negativ. "Sich in diesen Foren mitzuteilen kann auch eine entlastende Wirkung haben."

Hartmut H. sieht das genauso. "Am hilfreichsten war es für mich, herauszugehen aus der Anonymität und mit Leuten über meine Gefühle reden zu können", erzählt H., 52-jähriger Mechanikermeister aus Tuttlingen am Bodensee. H. betrieb eine Zeit lang eine Internetseite zum Thema Schwermut und Suizidgedanken.

"In erster Linie muss man akzeptieren, dass Depressionen da sind und dass man die Suizidgedanken nun mal hat", sagt H. heute auf die Frage, was er denn anderen Schwermütigen raten könnte. Von einer Heilung möchte der inzwischen berentete Mechanikermeister daher auch nicht sprechen. "Die Suizidgedanken werden immer bleiben." Die Fantasien über eine Selbsttötung gleichen für H. "dem Weg in Richtung auf eine Klippe. Wenn ich merke, dass ich wieder auf diesen Punkt zugehe, versuche ich mich zu beschäftigen, damit ich andere Abzweigungen finde." Für Situationen, in denen er "unter Druck" gerät, habe ihm sein Arzt Beruhigungsmedikamente mitgegeben - aber nur zwei Tabletten, für den Notfall.

Über seelische Probleme können vor allem Jüngere reden. "Die ältere Generation tut sich schwer damit, über ihre Depressionen zu sprechen, für die ist oftmals schon der Gang zum Psychiater extrem belastend", schildert Bohn. Die Suizidrate unter älteren Menschen war schon immer erheblich höher als unter Jüngeren. Sorgen bereitet Bohn, dass "viele Jüngere in der Tendenz die hohe Suizidrate der Älteren tolerieren". Begriffe wie "Bilanzselbstmord" lehnt Bohn ab. Denn auch die Schwermut im Alter kann behandelt werden. Um der schleichenden Akzeptanz vorzubeugen, beschäftigt sich die kommende Frühjahrstagung der DGS mit der "Suizidalität im höheren Lebensalter".

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