Aufklärung an der Odenwaldschule: Der Kodex des Missbrauchs

Die Odenwaldschule hielt angeblich 100 Jahre lang den Respekt vor dem Kind hoch. In Wahrheit galt in den 70er und 80er Jahren ein Kodex des Zugriffsrechts auf Schutzbefohlene.

Die inzwischen sicherste Schule der Welt? Bild: dpa

HEPPENHEIM taz | Die Odenwaldschule hat einen Schritt zu ihrer Aufklärung und Neuorientierung getan. Der Trägerverein der Schule wählte am Wochenende einen neuen Vorstand und änderte die Satzung. Der Bericht die beiden unabhängigen Aufklärerinnen, der Fachanwältin Claudia Burgsmüller und der Landgerichtspräsidentin a.D. Brigitte Tillmann zeigte, wie schmerzlich der Weg für die einstige reformpädagogische Vorzeigeschule wird.

Die Odenwaldschule hat nicht verhindern können, dass drei Intensivtäter ihr pädagogisches Prinzip über Jahre hinweg pervertiert haben. Dazu gehörten die Lehrer Wolfgang H., Jürgen K. und der bundesweit bekannte Schulleiter und Reformpädagoge Gerold Becker. Von Ende der 1960er bis Anfang der 1990er Jahre missbrauchten diese Lehrer regelmäßig Schüler der Odenwaldschule. Die Juristinnen gehen bislang von rund 50 Fällen sexuellen Missbrauchs und sexueller Grenzüberschreitung aus.

Die ehemalige Richterin Tillmann sagte, es könne sein, "dass dies nur die Spitze eines Eisbergs ist". Die Schule hat rund 2.800 Schreiben an ehemalige Schüler verschickt, zuletzt Ende April. Es dauere manchmal Monate, ehe die Betroffenen Vertrauen schöpften und sich offenbarten.

Der Trägerverein der Odenwaldschule hat am Wochenende einen Neuanfang beschlossen. Dazu gehören drei Elemente:

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1) Der Verein und Vorstand der Schule wurden runderneuert. Im Verein gibt es jetzt 14 neue Mitglieder, meistens ehemalige Schüler. Weitere 15 Neuaufnahmen sind bereits beschlossen. Der Vorstand wurde komplett neu gewählt. An seiner Spitze steht der Notar Michael Frenzel, unter anderen gehören ihm auch der Journalist Johannes von Dohnanyi und Adrian Koerfer an, der ein Betroffener des Missbrauchs an der Schule ist.

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2) Der Verein will die Satzung verändern und hat damit bereits begonnen. Danach werden Schulleiter und Geschäftsführer sich nicht mehr selbst kontrollieren - sie gehören dem Vorstand nicht mehr an.

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3) Die Aufarbeitung und Neuorientierung geschieht durch einen Anerkennungsfonds für die Opfer und eine pädagogische Neuausrichtung, "die eine reformpädagogische sein soll". Dafür gibt es einen international besetzten wissenschaftlichen Beirat und die ehemalige Bundestagspräsidentin und engagierte Erziehungswissenschaftlerin Rita Süßmuth (CDU), die eine Reformkommission leiten soll.

"Bitte nennen sie mich nicht Opfer", sagte das neue Vorstandsmitglied Adrian Koerfer, "dann da hängt noch die Beschmutzung dran. Ich fühle mich als Betroffenen." Koerfer ist selbst von zwei Lehrern an der Odenwaldschule missbraucht worden. "Wir kamen ohne Sexualaufklärung an die Odenwaldschule. Dort trafen wir als 13-jährige auf eine Sexualität des Missbrauchs - von der wir dachten, das ist Sex."

Die Odenwaldschule war vor 100 Jahren als reformpädagogisches Landerziehungsheim gegründet worden. Ihr obersten Prinzipien heißen, "Werde der du bist" und Respekt vor der Integrität des Kindes. Die Haupttäter haben diese Prinzipien offenbar pervertiert und ausgenutzt. "Erleichtert wurden die Übergriffe durch einen herrschenden Kodex", sagte die Wiesbadener Anwältin Claudia Burgsmüller, "der möglicherweise von allen Erwachsenen geteilt wurde." Der Kodex habe gelautet, dass es sexuelle Zugriffsrechte für LehrerInnen auf SchülerInnen gibt, das heißt, "auf alle diejenigen, die strukturell abhängig waren als Schutzbefohlene."

Besonders bitter für die Odenewaldschule ist, dass es ihr in dieser Zeit nicht gelang, die Hilferufe der Schüler wahrzunehmen, "die es gelernt haben, den Mund aufzumachen." Diese Schüler wurden nicht ernstgenommen - weder von Eltern, Lehrern noch durch die Institution als ganzes. "Mehr noch: Innerhalb der Schule wurden sie sanktioniert - im extremen Fall mit dem Schulverweis, der natürlich anders begründet wurde", heißt es in dem Bericht der Aufklärerinnen.

An der Internatsschule Odenwaldschule sind alle Sicherungen für die Kinder durchgebrannt. Es gab zum Beispiel nicht die Möglichkeit, die Rolle der Familienoberhäupter (Lehrer) in den Internatsfamilien zu kontrollieren, da es keine gesonderte Heimleitung gab. Gerold Becker war einer der Haupttäter - und vereinte zugleich alle Leitungsfunktionen der Schule, ja er war im Vorstand der Schule sogar sein eigener Aufsichtsrat.

Bei einer Reihe von Lehrerinnen haben die monatelangen Berichte inzwischen traumatische Erfahrungen und Demoralisierungen bewirkt. Diese Lehrer fragen sich, warum sie nicht gesehen und verstanden haben, was ihre Kollegen taten. Ein Lehrer aus dieser Zeit sagte der taz, "ich muss mich hinterfragen, wieso ich nicht das Gespür hatte zu merken, was geschah." Diese Lehrer verneinen allerdings vehement einen für alle geltenden Kodex, nach dem die LehrerInnen Zugriffsrechte auf ihre Schüler hatten. "Das ist ausgeschlossen, das wäre mir nie in den Sinn gekommen", sagte ein Lehrer der taz.

Einziger Lichtblick bei der Aufarbeitung. Beschuldigt wird niemand, der aktuell noch tätig ist. "Die Odenwaldschule dürfte im Moment die sicherste Schule der Welt sein", sagte die Richterin Brigitte Tillmann.

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