Extreme Gewalt in der Moderne: Die falsche Frage nach dem Warum

Auf der Fachtagung "Extreme Gewalt" forderten Wissenschaftler ein Umdenken. Statt nach dem Warum zu fragen, sollte die Praxis des Mordens untersucht werden.

Jan Philipp Reemtsma hält die Frage nach dem Warum extremer Gewalt für falsch. Bild: dpa

Zwei Generationen lang ist Deutschland von extremer Gewalt verschont geblieben. "Das muss nicht so bleiben", sagt unser Bundesinnenminister: Schon morgen könne die Katastrophe über uns hereinbrechen. Ohne Unterlass ruft er dazu auf, den "leider notwendigen" Maßnahmen der Überwachung zuzustimmen. Schäuble war auch der Schirmherr einer Tagung, die letzten Montag in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zum Thema "Extreme Gewalt" stattfand. Eine ebenso spannende wie lehrreiche Tagung, wenn auch nicht unbedingt im Sinn der Schäubleschen Katastrophenprophylaxe.

Versammelt hatte sich eine Runde, die vom soziologischen, sozialpsychologischen, neurobiologischen, ethnologischen und politisch-juristischen Blickwinkel her sich des Themas bemächtigen wollte. Erste Annäherung an eine interdisziplinär zu erarbeitende Gewalttheorie? Bloß das nicht, meinte der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, dessen jüngste Arbeit "Vertrauen und Gewalt" allgegenwärtig über der Tagung schwebte. Interdisziplinarität ist nach Reemtsma eine Schimäre, und interdisziplinär arbeiten heißt für ihn, falsche Fragen aufzuwerfen und sie mittels einer unreflektierten Alltagskommunikation zu bearbeiten. Was aber sind die richtigen Fragen? Oder gibt es gar keine?

Der Sozialpsychologe Harald Welzer begann seinen Vortrag mit einer Warnung. Extreme Gewalt dürfe nicht exotisiert werden. Der gebannte Blick verstelle jede Erkenntnismöglichkeit. Wir müssten uns vielmehr mit den Elementen von Normalität beschäftigen, die das Unerhörte zur Selbstverständlichkeit werden lassen. Welzer referierte seine Untersuchungen zu dem "Polizeibataillon 45", das während des Zweiten Weltkriegs abertausende von jüdischen Menschen umbrachte. Auch in diesem Fall waren die Täter "ganz normale Männer". Welzer schilderte die Alltäglichkeit des Mordens, Essensausgabe, Pausen, Ablösung bei Übelkeit. Für Welzer ist entscheidend, dass die Angehörigen des Bataillons ihren Taten subjektiv einen Sinn zu geben versuchten. Einer der Täter gab 20 Jahre nach Kriegsende zu Protokoll, er habe ausschließlich Kinder erschossen, weil diese nach der Ermordung ihrer Eltern sowieso keine Überlebenschance gehabt hätten. Der gefundene Sinn der Mordtat erlaubt es den Mördern, die Dissonanz zwischen Normalität und exzessivem Handeln zu reduzieren. Welzers Thesen stießen auf die Kritik des Zeithistorikers Michael Wildt, der einwandte, solche Aussagen von Tätern seien retrospektiv, also als Beweise ungeeignet. Statt sich mit Sinnstrukturen zu beschäftigen, sollte die Praxis des Mordens untersucht werden, die "Performanz" der Tat.

Der entschiedenste Widerspruch kam von Jan Philipp Reemtsma. Sein Referat basierte auf der These, dass es unnütz und irreführend ist, Fragen aufzuwerfen wie zum Beispiel solche: "Wie konnte so etwas Schreckliches geschehen?" Oder: "Wieso haben sich Menschen, die als Nachbarn stets friedlich miteinander lebten, plötzlich gegenseitig abgeschlachtet?" In jeder Nachbarschaft, so Reemtsma, steckt hinreichend mörderisches Potenzial. Kein Regime, das seinen Terror- und Folterapparat aufbauen wollte, hat je über Personalknappheit klagen müssen.

Im Bezug auf Gewaltphänomene leistet das instrumentelle Denken besonders schlechte Dienste. Es bringe nichts, so Reemtsma, zu fragen, welchen rational nachvollziehbaren Zweck die Gewalttäter mit ihrer Tat verfolgten. Man könne nicht Mittel von Zwecken trennen. Sich auf Saul Friedländer stützend, resümierte Remtsma, die Nazis hätten einfach nur die Juden umbringen wollen, gleichzeitig als Mittel und als Zweck. Woher also dieses Sichklammern an unnütze Fragen? Für Reemtsma hat die Moderne die Gewaltanwendung unter einen sich verschärfenden Legitimationsdruck gestellt. Das Bewusstsein dieses zivilisatorischen Fortschritts habe uns aber blind gemacht für die Fortdauer extremer Gewaltanwendung. Wenn wir, so Reemtsma, aufhören, uns über exzessive Gewalt zu wundern, werden wir schneller zu vernünftigen Handlungsoptionen kommen.

Alles vergeblicher Streit, weil unsere Gene unsere Aggressionen produzieren? Der Neurobiologe Gerhard Roth referierte über die jüngsten Ergebnisse der Gehirnforschung, um dann dem biologischen Determinismus zu widersprechen. Gendefekte brauchen den Anstoß durch Umweltereignisse, um zu Fehlsteuerungen im Gehirn zu führen. Solche schädigenden Ereignisse sind etwa Kindesmisshandlungen und Kindesmissbrauch.

Es liegt also nach wie vor an unserem Willen und Verstand, mit der Drohung extremer Gewalt zurechtzukommen. Dabei hielt der Konfliktforscher Kurt Spillmann auf der Tagung nur einen geringen Trost für uns bereit. Er stellte die 240.000 Generationen, die unsere Existenz erst als Opfer wilder Tiere und dann als deren Jäger geprägt haben, den wenigen Generationen gegenüber, die diese Bereitschaft zur Angst und Aggression obsolet erscheinen lassen.

In der Ankündigung der Tagung war von kürzeren Zeiträumen die Rede gewesen. Es sollte eine Perspektive für die Arbeit an "gemeinsamen Konzepten der Intervention und Prävention" eröffnet werden. Nach der Tagung lautet das Fazit: Hier wartet ein steiniger Acker auf Bestellung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.