Bericht der Mutter einer Abhängigen: "Die Hilflosigkeit ist das Schlimmste"

Meine Tochter war ein fröhliches, schlagfertiges Mädchen. Dann kamen Probleme in der Schule, sie wurde Punk und fing mit den Drogen an. Das Leben wich Stück für Stück aus ihr. Und ich konnte nur zusehen.

So sauber sind die Utensilien eines Junkies selten. Bild: ap

Im obersten Stockwerk eines Hochhauses in Berlin-Spandau. Tanjas* Mutter, eine kleine, redselige Frau, bittet herein. Sie zeigt die Schwalbennester auf dem Balkon, den Hund, das Wohnzimmer. Sie ist viel zu Hause. Früher arbeitete sie als Sekretärin in einer Baufirma, doch mit der Geburt der zweiten Tochter hörte sie auf. Zurzeit sucht sie einen Job. Die Regale sind geschmückt mit Fotos ihrer zwei Mädchen. Von der Älteren beginnt sie zu erzählen. Immer wieder stoppt sie und dreht sich eine Zigarette. Man merkt, es kostet sie Kraft, die schrecklichen Ereignisse noch einmal hochzuholen. Aber sie will Tanjas Geschichte öffentlich machen, als Warnung.

Im September 2007 klingelt es morgens um drei Uhr an der Tür. Das ist Tanja, denke ich. Über die Sprechanlage meldet sich eine Frau. "Hier ist die Polizei. Können wir hochkommen? Es geht um Ihre Tochter." Da weiß ich schon: Tanja ist tot. Gestorben am Heroin und all den Fürchterlichkeiten, die es mit sich brachte. Sie wurde 35 Jahre alt. Tanja, meine Tochter. Sie war früher ein fröhliches Mädchen, schlank, mit blonden glatten Haaren. Schlagfertig, auch ein bisschen aufbrausend. Sie hat sich nicht viel sagen lassen. In der Schule war sie beliebt, sie wurde zur Klassensprecherin gewählt. Später wollte sie Medizin studieren. Von außen dachte man: ein selbstbewusstes Mädchen. Aber drinnen, da sah es wohl ganz anders aus.

Sommer 1986: Tanja ist weg. Einfach nicht nach Hause gekommen, und das mit 14 Jahren. Ich weiß, in der Schule läuft es nicht gut. Aber dass sie abhaut, damit habe ich nicht gerechnet. Panisch rufe ich die Polizei. Wir finden sie in einer Wohngemeinschaft in der Nähe. Eine Anderthalbzimmerwohnung, Matratzen liegen auf dem Boden. Acht Leute schlafen hier, die meisten sind Punks. Tanja ist die Jüngste, sie fühlt sich toll zwischen den Älteren. "Komm doch wieder nach Hause", dränge ich. Aber Tanja will nicht.

Sonst hat Tanja auf ihr Äußeres geachtet, sie hat nie zwei Tage dasselbe angezogen. Jetzt wird sie selbst zum Punker. Die Schule schwänzt sie. Sie sagt, ihre politische Einstellung erlaube es ihr nicht mehr, dorthin zu gehen. In der WG saufen und kiffen sie. Tanja erzählt es mir offenherzig. Sie erzählt mir ja immer alles. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich hoffe inständig, dass das nur eine Phase ist. Ich gehe mit Tanja zur Drogenberatung. Doch sie lehnt eine Betreuung ab.

Tanja liest das Buch "Die Kinder vom Bahnhof Zoo". Andere schreckt die Geschichte der Christiane F. ab. Tanja macht sie neugierig, sagt sie hinterher. Diese düstere Welt ziehe sie an. Ich glaube, dass den Menschen, die Drogen nehmen, ein Funke Urvertrauen fehlt. Sie fühlen sich tief in ihrem Herzen nicht angenommen. Tanja hat schon früh Schweres erlebt. Sie musste als Baby ein dreiviertel Jahr im Krankenhaus bleiben wegen einer Stoffwechselkrankheit. Mein Mann trank und schlug mich. Als ich mich mit Tanja aus unserem fränkischen Dorf nach Berlin rettete, war sie vier Jahre alt. Sie hat das alles mitgekriegt.

Irgendwann sagt Tanja: "Ich komme wieder nach Hause, wenn mein Freund mitdarf." Der ist ein Hardcore-Punker. Ich will meine Tochter bei mir haben und willige ein. Wenn ich abends von der Arbeit komme, hängen oft fünf oder sechs Jugendliche in unserer Zweizimmerwohnung, mit einem Haufen Hunden. Ich füttere alle durch. Die Nachbarn beschweren sich über den Lärm. Ein Jahr halte ich das aus. Doch als Tanjas Freund mir Schläge androht, ist Schluss. Ich setze sie vor die Tür. Eine richtige Entscheidung, wie sich zeigt. Tanja kommt in einer von Sozialarbeitern betreuten Wohngemeinschaft unter. Da darf sie weder trinken noch kiffen, und sie macht zumindest ihren Hauptschulabschluss nach.

Als Tanja 18 ist, lerne ich in einem Griechenlandurlaub einen Mann kennen und werde schwanger. Ich bekomme noch eine Tochter. Und verliere die andere. Tanja geht in dieser Zeit oft in eine Kneipe in Spandau. Von einem Typen bekommt sie eines Abends Heroin zum Schnupfen angeboten. Speed kennt sie schon, jetzt probiert sie "was Braunes", wie er es nennt. Am nächsten Morgen liegt sie bei mir in der Wohnung im Bett und muss sich ständig übergeben. Ich denke zuerst, sie hat zu viel getrunken. Aber das geht drei Tage so. Sie liegt da, jammert und trinkt Fencheltee aus einer Babyflasche. Als sie mir erzählt, was sie genommen hat, will ich den Mann anzeigen. Aber Tanja sagt mir seinen Namen nicht. "Das ist zu gefährlich."

Wieder hoffe ich, dass das nur eine Phase ist, die vergeht, eine einmalige Sache. Wieder suche ich Hilfe bei der Drogenberatung. Aber Tanja wird schnell abhängig. Sie sagt: "Dieser Kick war das Schönste, was ich jemals erlebt habe. Ich muss immer probieren, dieses Gefühl wiederzufinden." Sie fängt an zu spritzen, weil man da weniger Stoff braucht. Als Mutter oder Vater kannst du nur zuschauen, aber nichts machen. Die Hilflosigkeit ist das Schlimmste.

Einmal warte ich mit Tanja im Krankenhaus. Sie schläft auf einer Pritsche im Flur. Ein tätowierter Mann sitzt in der Nähe. Er sieht gleich, was mit Tanja los ist, und sagt zu mir: "Wenn du einen Drogenabhängigen aus dem Sumpf ziehen willst, wird dein Arm abgefressen, aber du holst ihn nicht raus." Dieses Bild hilft mir, mich selbst zu schützen, mich abzugrenzen. Maja, eine liebe Freundin von Tanja aus der WG-Zeit, stirbt am Heroin. Carsten, ein anderer Freund, verschwindet. Seine Leiche wird in der Havel gefunden, in einem Koffer. Tanja dreht völlig durch. Sie wolle zu Maja und Carsten, sagt sie. Da ist sie 22 Jahre alt.

Ich besorge ihr einen Therapieplatz in Hamburg. Dafür muss Tanja entziehen. Eine Woche liegt sie bei mir im Bett, zittert, isst kaum etwas. Tanja sagt, das Schlimme sei nicht der körperliche Entzug, sondern die Depressionen danach, die Drogenträume. Auch die Therapie in Hamburg bricht sie ab.

Sommer 1997. Ich besuche Tanja in ihrer Wohnung in Schöneberg. Dort lebt sie mit ihrem Freund Felix, ebenfalls ein Junkie. Der Strom ist abgestellt. Ich habe einen Gaskocher besorgt, damit sie sich wenigstens Tee machen können. Tanja heult und heult. Ich erkenne sie nicht wieder, so viel hat sie abgenommen.

An diesem Tag erfahre ich, dass Tanja anschaffen geht. An der Kurfürstenstraße, fast rund um die Uhr. Sie muss das Geld für den Stoff für beide verdienen. Tanja erzählt schreckliche Dinge. Einmal sei sie von fünf Typen vergewaltigt worden. Felix redet auf sie ein: "Tanja, beruhig dich, das wird schon wieder." Aber mir ist klar: Sobald ich aus der Tür bin, schickt er sie wieder los.

Und ich kann wieder nichts tun. Ich kann ihr nicht jeden Tag 300 D-Mark geben. Ich kann ihr nur Essen bringen, damit sie nicht verhungert. Ich wasche ihre Wäsche, damit sie nicht völlig verkommt. Auch mir fehlt inzwischen manchmal die Lust zu leben. Aber ich habe ja noch meine kleine Tochter. Es muss alles irgendwie weitergehen.

Tanja nimmt Heroin und Kokain gemischt. Ich weiß nicht, ob die Dealer da auch Rattengift hineintun. Jedenfalls bekommt Tanja einen bösen Ausschlag auf den Wangen. Wenn sie anschaffen geht, trägt sie eine dicke Schicht Make-up auf. Sie ist nur noch ein Knochengerüst, wiegt zeitweilig 35 Kilo.

Seltene Zeiten der Hoffnung: Tanja und Felix werden 2000 in ein Methadon-Programm aufgenommen. Sie muss nicht mehr auf den Strich gehen. Felix arbeitet beim Obdachlosen-Magazin Motz. Am Nollendorfplatz verteilt er Zeitungen an die Verkäufer. Tanja schenkt ihnen Kaffee aus. Bis Felix sich mit den Motz-Leuten verkracht und rausfliegt.

Die nächste Horrornachricht folgt kurz darauf: Tanja ist HIV-positiv, zudem wird Hepatitis C diagnostiziert. Zuerst kommt Tanja mit dem HIV-Virus einigermaßen klar. Sie geht manchmal auch wieder anschaffen. Dann wird sie schwächer, muss alle paar Monate mit Infekten und Ausschlägen ins Krankenhaus. Sie schafft es nicht mehr, sich Methadon in der Arztpraxis abzuholen. Um sich Drogen besorgen zu können, verkauft sie die Rezepte ihrer teuren Aids-Medikamente. Sie gibt dem Apotheker das Rezept, anstelle der Medikamente gibt er ihr etwas Geld. Man sieht, dass Tanja krank ist. Die Klamotten schlabbern an ihr herum. Jeder starrt sie auf der Straße an. Dass man an so jemandem genauso hängt, das verstehen viele nicht. Aber für mich ist Tanja immer noch Tanja.

Felix und Tanja trennen sich 2006. Ich komme wieder leichter an sie heran. Wir treffen uns regelmäßig, sitzen zusammen auf der Bank und rauchen. Oder wir gehen einkaufen. Wir streiten nicht mehr. Tanja beschwert sich, wenn ich mich mal nicht melde. Sie umarmt mich sogar, wenn wir uns verabschieden. Eine versöhnliche Zeit. Vielleicht ist auch deshalb Ruhe eingekehrt, weil wir beide wissen, sie hat nicht mehr lange zu leben.

Sommer 2007. Tanja verträgt das Heroin nicht mehr. Ich staubsauge gerade ihr Wohnzimmer, als sie zusammenbricht. Schaum kommt aus ihrem Mund, sie zittert. Ich alarmiere die Feuerwehr. Am nächsten Tag ruft Tanja mich aus dem Krankenhaus an und macht mir die größten Vorwürfe: "Warum hast du mich nicht sterben lassen?" Ich verstehe sie. Aber sie einfach krepieren lassen? Das konnte ich nicht.

Wenige Wochen später spritzt sie sich wieder eine Dosis. Ein Bekannter findet sie. Als die Feuerwehr eintrifft, ist Tanja tot."

*Alle Namen geändert

PROTOKOLL VON ANTJE LANG-LENDORFF

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.