WM-Nachbetrachtung: Fußball glokal

Fußball wurde erst in den 1920er Jahren Motor nationaler Identitätsbildung. Heute ist die nationale Identifikation erlahmt. Eine Nachbetrachtung zur WM 2010.

Uruguays Stürmer Diego Forlan wurde in Südafrika zum besten Spieler der WM gewählt. Kleiner Trost für die Fans in Montevideo. Bild: dpa

Fußball wurde groß als lokales Ereignis, Städte oder Stadtteile waren sein originärer Bezugspunkt. Erst in den 1920er Jahren wurde Fußball, nicht zufällig im zerfallenen Habsburgerreich, zum Motor nationaler Identitätsbildung, in das sich Proletarier und Einwanderer einfügen konnten. Seither konnte auch eine nationale "Auswahl" die Gemüter bewegen, Wir-Gefühle stiften und kollektive Hassausbrüche (wie 1958, als man harmlosen schwedischen Touristen die Reifen aufschnitt.)

Die WM 2010 zeigt, dass diese nationale Identifikation erlahmt ist. Das viel gerühmte Multikulti-Team Frankreichs, in Wirklichkeit eine Truppe individualistischer Multimillionäre, hat nur noch zum Ehrverlust der Grande Nation beigetragen, die Cracks aus Mailand oder Manchester bringen keine Nationalmannschaft mehr zustande, auch die aus aller Welt zusammengetrommelten Legionäre Afrikas formen dort keine Fußballnationen oder gar Kontinente.

Sport ist einfacher und selbstverständlicher "grenzenlos" als andere gesellschaftliche Aktivitäten. Die Spiele der "Top 20" im internationalen Fußball- oder Basketballgeschäft, auch Großereignisse im Tennis und im Golfsport, im Eishockey und im Baseball, beim Segeln, Rugby und Triathlon können das Phänomen der Globalisierung oder globalen Entgrenzung hervorragend illustrieren. Gleichzeitig bleibt vor allem im Fußballsport ein lokalpatriotischer und ein national-staatlicher Hintergrund erhalten. Eine Fußball-WM demonstriert, dass wir als Provinzheinis, Gelegenheitsnationalisten und Weltbürger vielfältige und zum Teil ganz konträre Wir-Gefühle hegen können. Wir sind alle glokal.

Auch in diesem Jahr mussten die deutschen Fans ihre Zuneigung auf die Nationalmannschaft und auf multinational zusammengesetzte Vereinsmannschaften verteilen, was bei einer WM dazu führt, dass zum Beispiel ein Dortmunder Fan für Manuel Neuer, den Torwart des Schalker Erzrivalen, ist und nicht für den eigenen Stürmer Nelson Valdez. Die "Kreolisierung" der Fußballvereine mindert den Lokalpatriotismus nicht, wenngleich hier und da Klagen von Fans zu hören sind, etwa über eine "squadra globalizzata", wie die italienische Tageszeitung La Repubblica das Legionärsteam von Inter Mailand bezeichnet hat, in dem keine aus der heimischen Lombardei stammende Spielerpersönlichkeit als Identifikationsfigur in Betracht kommt. Das seinerzeit sportlich wie performativ dominierende Starteam von Real Madrid gab die Gegenlosung "Zidanes Y Pavones" aus und mischte die Weltenbummler (wie Zinedine Zidane) mit hauseigenem Nachwuchs (wie Francisco Pavon).

Dass die Spitzenteams wie transnationale Großunternehmen agieren, führte hier und da zu einer interessanten Spielart der Antiglobalisierungsbewegung: Als Manchester United durch den fußballfernen US-Tycoon Malcolm Glazer übernommen wurde, gab es wütende Proteste und Absetzbewegungen unter Fans. Ähnliches geschah vor Jahren beim FC Wimbledon, dessen Heimspielstätte verlegt werden sollte, wie man es bisher nur von US-amerikanische Baseball- und Football-Teams gewohnt war.

Obwohl Nationalität im Sportgeschehen offenbar relativ wird und Nationalismus eine lokales Schlachtfeld für extreme Hinterwäldler ist (Beispiel: Leipzig), lässt sich die von Nationalmannschaften neu inszenieren, besonders anlässlich der großen Welt- und Kontinentalturniere, die zugleich die enge Verschränkung von Sport, Politik und Mediensystem offenlegen. Transnationale Medienereignisse schaffen bei aller Standardisierung durch die Eigenart der jeweiligen Sportarten eine eigene Szenerie, die aus der Routine und Normalität alltäglicher Erfahrung herausfällt. Eine Besonderheit solcher Sportübertragungen besteht offenbar darin, dass sie erwartbare und überraschende Aspekte besonders gut kombinieren können.

Zugleich sind Sportereignisse hervorragend geeignet für diskursive Aufbereitung, also für lokale Anschlusskommunikation, in der sich die Akteure und Zuschauer durch ihre jeweilige kulturelle Brille über die Wahrnehmung des Geschehens verständigen. Was ein gutes oder schlechtes Spiel (gewesen) ist, entscheidet sich bekanntlich oft erst, während darüber auf der Tribüne diskutiert wird und danach, wenn im Rundfunk, im Fernsehen und in maßgeblichen Zeitungen gefachsimpelt wird.

Der ursprüngliche Kommunikationsraum der Moderne war die Nation beziehungsweise der Nationalstaat; heute ist Vergesellschaftung nicht mehr allein an diese historische Form gebunden. So wie die Leser reformatorischer oder revolutionärer Flugschriften gewissermaßen nebenbei eine Nation begründeten, gingen Zuschauer der ersten Mondlandung, eines Madonna-Konzerts oder eben einer Fußball-WM eine (flüchtige) transnationale Gemeinschaft ein. Insofern ist Sport als transnationales Medienereignis ein Verstärker von Globalisierung.

Damit ist das große Sportereignis ein Katalysator grenzüberschreitender Wissensbildung, die nicht mehr auf die Öffentlichkeit einer Nation beschränkt bleibt. Gleichwohl bleibt eine nationale Dividende. Sie besteht im Prestigegewinn einer Nation durch exzellentes Abschneiden bei internationalen Wettbewerben, ablesbar etwa am Medaillenspiegel einer Olympiade oder am Vordringen von Athleten und Mannschaften in Finalkämpfe von Turnieren. So sehr das Sportgeschäft die Grenzen von Nationalstaaten überschritten hat, so sehr ist es eine Eigenheit transnationaler Sportpolitik, dass sie symbolisch auf einen lokalen oder nationalen Patriotismus zurückverwiesen bleibt.

Dem Sportsystem haftet somit eine gewisse Widerständigkeit gegen die Gleichmacherei und Vaterlandslosigkeit der "Einen Welt" an, und wahrscheinlich besteht in dieser patriotischen Reservekapazität exakt die Aufgabe des Sportsystems in transnationalen Interaktionen. Deshalb kann man ein sportliches Großereignis auch nie ganz seiner nationalistischen Konnotationen entkleiden, deshalb auch sind rassistische Ausfälle gegen farbige Athleten und Multikultiteams keine Ausrutscher, deshalb wurden bei internationalen Wettbewerben sogar "Ersatzkriege" ausgefochten, exemplarisch nach einem Ausscheidungsspiel zur Fußball-WM zwischen Honduras und El Salvador im Juli 1969, das 3.000 Todesopfer und 6.000 Verletzte kostete.

Erstaunliche Fairness

Die glokale Sportmarke Deutschland, die von der Nostalgie der drei WM-Titel 1954,1974 und 1990 lebt, muss keinen nationalistischen Rückfall befürchten. Erstaunlich ist die Fairness, mit der die Überlegenheit des spanischen Teams konzediert wurde , und die Freude auch über ein Verliererfinale. Eher verträgt das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer eine Stilkritik ob ihrer ästhetischen Schwäche. Man mag gar nicht daran denken, dass dieses fantasielose Event in zwei Jahren noch einmal repliziert und potenziert werden könnte.

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