Tricks der Pharmakonzerne: Monopole statt Patientenschutz

Der Markt für Medikamente ist gesättigt. Die Branche reagiert mit einem neuen, dubiosen Geschäftsmodell - und bekommt dabei Hilfe von der Regierung.

Viele, viele Pillen: Die Pharmakonzerne suchen den direkten Weg zum Patienten. Bild: dpa

Auf einer grünen Wiese sitzen unter dem schützenden Dach eines Laubbaums zwei Frauen einander zugewandt. Hinter ihnen ein blassblauer Himmel, neben ihnen ein Versprechen in leuchtend weißen Lettern: "Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt". Das ist der Internetauftritt des Instituts für Innovation und Integration im Gesundheitswesen, kurz I3G, einer Management-Gesellschaft mit begrenzter Haftung, die sich Großes vorgenommen hat:

Für alle Schizophrenie-Erkrankten, die bei der AOK Niedersachsen versichert sind, 13.000 Menschen immerhin, will die I3G die sogenannte Integrierte Versorgung verantworten. Die Krankenkasse überträgt damit das finanzielle Risiko für die Gesundheitsversorgung von 13.000 Patienten einem Privatunternehmen.

Geplant ist eine medizinische Versorgung in einem Verbund miteinander kooperierender Ärzte, Kliniken oder auch Reha-Einrichtungen. So sollen Kosten gespart werden, indem die ambulante Behandlung gestärkt, doppelte Untersuchungen und Besuche bei nicht zuständigen Ärzten vermieden werden. Die I3G organisiert hierbei nicht nur die Versorgungsforschung und sichert die Qualität, sondern übernimmt auch die Budgetverantwortung.

Für die Krankenkasse ein guter Deal. "Die Management-Gesellschaft hat die Verantwortung, dass unterm Strich die Versorgung nicht teurer wird", sagt der Sprecher der AOK Niedersachsen, Klaus Altmann. Denn die I3G sichert zu, dass sie in jedem Fall die finanzielle Verantwortung für die Versorgung sämtlicher 13.000 Patienten trägt.

Unabhängig davon, ob sich die Patienten bereit erklären, an dem - freiwilligen - Programm der Integrierten Versorgung (siehe Kasten) teilzunehmen. Oder ob sie doch lieber auf die bisherige, mitunter teurere Regelversorgung zurückgreifen wollen. Für die Versicherung werden Kosten damit erstmals verlässlich kalkulierbar.

Bei der Integrierten Versorgung werden Patienten sektoren- und fachübergreifend versorgt in einem Netz kooperierender Hausärzte, Fachärzte, Vorsorge- und Reha-Kliniken oder auch Krankenhäuser. Dazu schließen Krankenkassen sogenannte Vertragspartnerschaften mit beispielsweise Ärzten, Pflegediensten oder medizinischen Versorgungszentren. Die Teilnahme der Patienten ist freiwillig.

Viel Geld soll so gespart werden: Doppelte Untersuchungen entfallen, Wissen über bisherige Therapien wird ausgetauscht. Und weil die Wahrscheinlichkeit in einem solchen Kooperationsmodell hoch ist, dass drohende schwerwiegende Krankheitsverläufe frühzeitig entdeckt und behandelt werden, können kostspielige stationäre Aufenthalte auf ein Minimum reduziert werden.

Der Vertrag wurde im Sommer 2010 zwischen der AOK Niedersachsen und der I3G geschlossen. "Ein Zukunftsmodell", jubelte die AOK in ihrer Pressemitteilung. Seither ist das Programm in einer Pilotregion rund um die Kleinstadt Hemmoor im Landkreis Cuxhaven angelaufen. Die flächendeckende Versorgung soll im Herbst 2011 erfolgen.

Die AOK Niedersachsen legt damit für die kommenden sieben Jahre die finanzielle Verantwortung für die Gesundheitsversorgung von 13.000 Versicherten in die Hände eines Unternehmens, das erst im Juni 2010 ins Handelsregister eingetragen wurde. Eine Firma, die keinerlei Erfahrung mit integrierter Versorgung von psychisch Kranken hatte.

Was die Sache fragwürdig macht: Die I3G ist eine 100-prozentige Tochter des forschenden Arzneimittelherstellers Janssen-Cilag GmbH mit Sitz im rheinischen Neuss. Janssen-Cilag wiederum ist die deutsche Tochter von Johnson + Johnson, einem der weltweit größten Gesundheitskonzerne mit Sitz in den USA.

Zum Sortiment von Janssen-Cilag gehören Medikamente zur Behandlung von Schizophrenien. Einer der Forschungsschwerpunkte ist nach Unternehmensangaben der Bereich Psychiatrie und Neurologie. Die Janssen-Cilag GmbH und die I3G GmbH firmieren unter derselben Adresse.

Wer beim Mutterkonzern in Neuss anruft, erfährt, dass es sich bei der I3G "um eine Abteilung von uns" handele. Der Geschäftsführer der I3G, Klaus Suwelack, widerspricht: "Ich lege Wert darauf: I3G ist eine unabhängige Management-Gsellschaft und kein Pharmaunternehmen."

Unabhängig? Bis August 2010 war Suwelack bei Janssen-Cilag beschäftigt, unter anderem verantwortlich für Kooperationen im Gesundheitswesen. Noch heute kann man seine Arbeitszeiten und telefonische Erreichbarkeit bei Janssen-Cilag abfragen.

Zugespitzt formuliert: Ein auf Schizophrenien spezialisierter Pharmahersteller gründet also ein Tochterunternehmen, das dann als Vertragspartner einer Krankenkasse für die Versorgung von Schizophrenie-Erkrankten verantwortlich zeichnet. Und das eine soll mit dem anderen nichts zu tun haben? Suwelack beteuert: "Wir nehmen keinen Einfluss auf die Medikationsauswahl der Ärzte."

Natürlich sind die an der Integrierten Versorgung beteiligten Ärzte frei in ihrer Therapie- und Medikamentenwahl. Nur: Das Unternehmen Care4S GmbH (Care for Schizophrenia), das mit dem Aufbau und der Unterstützung eines flächendeckenden Netzwerks von Fachärzten und -pflegern betraut ist und damit den medizinischen Teil verantwortet, ist nicht etwa Auftragnehmerin der AOK Niedersachsen. Vielmehr ist sie Auftragnehmerin der I3G - und damit direkt abhängig von deren Entscheidungen.

Klare Grenzüberschreitung

Was das bedeuten kann? Die I3G als Finanzverantwortliche könnte beispielsweise eines Tages feststellen, dass das Arzneimittelbudget überzogen sei. Daraufhin könnte sie die Ärzte auffordern, bei den Verordnungen zu sparen. Und rein zufällig könnte in dieser Situation Janssen-Cilag auf den Plan treten und den beteiligten Ärzten mit Vorzugspreisen für ihre Medikamente aus der Patsche helfen.

"Das ist so, als wenn ein Autohersteller auch die Straßen und das Benzin in einer Holding kontrollieren würde", urteilt Frank Schneider, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Aachen und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): "Eine klare Form der Grenzüberschreitung."

Schneider hat sich deswegen an den Gesundheitsausschuss des Bundestages gewendet. Erfolglos. Schlimmer noch: Nach dem Willen der schwarz-gelben Koalition sollen Verträge wie der aus Niedersachsen keine Ausnahme bleiben. Sie sind nur die harmlose Vorstufe zu einer neuen Qualität der Gesundheitsversorgung:

Ab 2011 sollen erstmals auch Pharmafirmen und Hersteller von Medizinprodukten direkte Vertragspartner von Krankenkassen innerhalb der Integrierten Versorgung werden dürfen. Bislang war dies "Leistungserbringern" wie Ärzten, Krankenhäusern, medizinischen Versorgungszentren und Ähnlichen vorbehalten.

Das heißt: Hersteller von Hörgeräten oder Hüftgelenken werden künftig die Gesundheitsversorgung von Patienten mit Hör- oder Hüftschäden verantworten - und können damit für ihre Produkte innerhalb einer Patientengruppe eine Art Monopol durchsetzen: "Ihre Hörgeräte und Prothesen bringen sie mit, die ärztlichen Leistungen kaufen sie dazu", erklärt Volker Amelung, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Managed Care das Prinzip.

Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts mit der entsprechenden Klausel soll in der kommenden Woche den Bundestag passieren. Die Änderung erfolgt keineswegs zufällig. Längst hat die Pharmaindustrie die Gesundheitsversorgung als neues Geschäftsfeld und vor allem als Zukunft für sich erkannt.

Wenn man sich in der Branche umhört, dann fallen zunehmend Sätze, die ähnlich klingen wie die Äußerung einer Unternehmenssprecherin von Lilly, ebenfalls Herstellerin von Arzneimitteln zur Behandlung von Schizophrenien: "Wir setzen auf innovative Vertragsmodelle in Kooperation mit Krankenkassen."

Unterstützt werden sie in ihren Bemühungen von dem wichtigsten deutschen Pharmalobbyisten, dem Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA). "Unternehmen werden künftig Spielräume zur Versorgungsoptimierung nutzen, zum Beispiel als vollwertige Partner in der Integrierten Versorgung", prognostiziert dessen Hauptgeschäftsführerin Cornelia Yzer. Warum? "In einem verbesserten Therapiemanagement liegen die Effizienzreserven, die in unserem Gesundheitssystem gehoben werden müssen."

Übersetzt heißt das: Viele Hersteller sehen sich nicht mehr schlicht als Pharma-, sondern als Gesundheitskonzerne. Den Grund für das gewandelte Selbstverständnis erklären Kenner der Branche vor allem ökonomisch: Das traditionelle Geschäftsmodell der Pharmaindustrie sei überholt, nämlich die Entwicklung von Medikamenten für Volkskrankheiten mit einem weltweiten Umsatz von mehr als 1 Milliarde Dollar pro Jahr. Denn neue Medikamente brächten heutzutage häufig keine wirklichen Verbesserungen gegenüber existierenden Therapien. Der Markt ist schlicht gesättigt.

"Herzinfarkte, Diabetes, Blutfettspiegel - die großen Krankheiten sind erforscht, mit Ausnahme von Krebs und Demenz", urteilt ein Pharmaexperte. "Mit Medikamenten in diesem Bereich lässt sich kein großes Geld mehr verdienen." So wird inzwischen im Schnitt von 250 getesteten Substanzen nur noch eine als innovatives Arzneimittel zugelassen. Die Forschungs- und Entwicklungskosten pro Medikament liegen aber nach Herstellerangaben bei bis zu 800 Millionen Dollar.

Deals der Zukunft

Neuorientierung ist nötig. Einer der möglichen Deals der Zukunft könnte dann so gehen: Ein Pharmahersteller wird Vertragspartner einer Krankenkasse und übernimmt für ein spezielles Versorgungssegment deren Kostenrisiko. Im Gegenzug verschafft ihm die Kasse Zugang zu einer sehr großen Gruppe Versicherter und damit auch deren Daten. Ferner sichert die Kasse zu, dass für die Ersttherapie grundsätzlich Medikamente des Herstellers privilegiert würden.

Besserenfalls werden damit bloß Konkurrenz und Wettbewerb ausgehebelt, schlimmerenfalls auch noch der Daten- und Patientenschutz: "Es besteht die Gefahr, dass Patienten mit für sie unzweckmäßigen Medikamenten behandelt werden", warnt die SPD-Bundestagsabgeordnete Marlies Volkmer.

Die I3G beschäftigen ganz andere Sorgen: "Mittelfristig möchte das Institut für Innovation und Integration im Gesundheitswesen gemeinsam mit Partnern auch in anderen Regionen und für andere Indikationen neue Versorgungssysteme anbieten", heißt es auf seiner Homepage.

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