Einwanderer-Abgeordnete in NRW: Der M-Faktor

Im neu gewählten Landtag von Nordrhein-Westfalen sitzen nun sechs türkischstämmige Abgeordnete. Einwanderer in deutschen Parlamenten sind noch immer die große Ausnahme.

6 von 181 Abgeordneten im neuen Landtag von NRW haben einen Migrationshintergrund. Bild: dpa

Düsseldorf | Arif Ünal ist es gewohnt, dass ihm Millionen Menschen zuhören. Er ist ein gefragter Experte im türkischen Fernsehen - für medizinische und soziale Fragen. Er weiß, wie es sich anfühlt, vor tausenden meist türkischstämmigen Zuhörern öffentlich zu reden, in Schulen und Gemeinderäumen. Der 55-Jährige gibt Erziehungsratschläge, Erklärungen für Krankheitssymptome oder Lösungen für Ehekonflikte. Er hilft ihnen, sich als Einwanderer mit Deutschland auseinander zu setzen.

Sein neues Publikum ist etwas kleiner, ihm nicht unbedingt wohlgesonnen und sehr deutsch: Ünal wird demnächst vor 180 Abgeordneten im neu gewählten Landtag in Nordrhein-Westfalen sprechen - als Grünen-Politiker. Er ist einer von 181 Abgeordneten in NRW - und einer von sechs türkischstämmigen. Für die Linke sitzen Ali Atalan, Özlem Alev Demirel und Hamide Akbayir im Landtag. Für die SPD ziehen Serdar Yüksel und Ibrahim Yetim ins Parlament ein.

Ohne Migranten-Faktor wären die sechs neu gewählten Abgeordneten nicht weiter bemerkenswert. Doch Namen wie Ali und Özlem neben Hans und Heidi seien noch keine Normalität, sagt Arif Ünal, der seit 1998 bei den Grünen ist. Dann sagt er einen Satz, den auch die anderen fünf sagen werden: "Wenn man die gleiche Anerkennung will, muss man doppelt so viel in dieser Gesellschaft leisten. Und auch das reicht nicht immer aus."

Ünal kam 1980 vor dem Militärputsch als Tourist nach Deutschland und blieb. Denn in der Türkei liefen wegen politischer Aktivitäten mehrere Verfahren gegen ihn, es drohte ihm eine Gefängnisstrafe. 25 war er damals. In Deutschland konnte er frei und kritisch reden, ohne den Staat zu fürchten. Er konnte sich engagieren, ohne dafür verhaftet zu werden.

Als der Chemiker, Mediziner und Sozialarbeiter 1995 das Kölner "Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten" gründete und dafür keinen politischen Rückhalt bekam, entschied er: "Verdammt, das mache ich jetzt selbst!"

Jetzt auf Landesebene werden Gesundheits- und Migrationspolitik wieder seine politischen Schwerpunkte sein. Warum er sich diese Themen gesucht habe? Ünal sagt wieder einen Satz, den auch die anderen fünf Abgeordneten sagen: "Ich nehme die Probleme der Migranten viel sensibler wahr, weil ich vieles kenne."

15 Millionen Menschen in Deutschland kommen aus Einwandererfamilien, aber nur 15 von ihnen sitzen im Bundestag. Ein Spiegelbild der Gesellschaft ist das Debattierzentrum der Macht nicht. Denn trotz Integrationsgipfel und Islamkonferenz gibt es in manchen Parteien Widerstände gegen Kollegen mit einer Migrationsbiografie.

Zwar gibt es etwa bei den Duisburger Grünen einen Ortsverband, der zu 70 Prozent aus Migranten besteht. Anderswo tut man sich aber schwerer mit Multikulti. Als der Sozialdemokrat Volker Baran zum Beispiel ein Amt in seinem Dortmunder Ortsverein bekam, gaben drei Genossen ihr Parteibuch zurück. "Wo ein Türke im Vorstand ist, möchte ich nicht in der Partei sein", habe einer gesagt, erinnert der 31-Jährige sich.

Erstmals wird die Linkspartei mit elf Abgeordneten in den Landtag einziehen. Und es ist kein Zufall, dass drei von ihnen türkisch-kurdischer Herkunft und alle drei als politische Flüchtlinge in Deutschland gestrandet sind. Denn die Linke hat sich zu einem Sprachrohr der Kurden, insbesondere der politischen Flüchtlinge in Deutschland entwickelt.

Als einzige Partei verfügt sie auf Landes- und Bundesebene über kurdischstämmige Abgeordnete. Über diese Kontakte veranstaltet sie Konferenzen und Diskussionsrunden zur Situation der Kurden. Und immer wieder wendet sich die Partei an die kurdische Community. So verlangte die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, einen Stopp der deutschen Militärhilfe an die Türkei.

Warum beschäftigen sich Migranten eigentlich fast immer mit Migrationsthemen? Weil es der Erwartungshaltung der Mehrheitsgesellschaft entspricht? Sind die Migranten ein Instrument für die Parteien, andere Migranten als Wähler zu gewinnen? Auf diese Fragen antwortet Ali Atalan zögerlich: "Ja, vielleicht ist das so." Auch bei den Linken? "Nein, hier geht es nur um Kompetenzen", wiegelt er ab.

Atalan verliert kein auch nur ansatzweise kritisches Wort über seine Partei. Er spricht fast immer von "wir", selten in der Ich-Form. Man würde sich nicht wundern, wenn er das Parteilogo irgendwo als Tattoo trägt. Es ist der Ehrgeiz eines Emporkömmlings, der Anlauf nimmt für seinen Durchbruch - in der politischen Opposition.

Als 17-Jähriger kam Atalan 1985 aus der Türkei nach Deutschland. Er lebte sieben Jahre in Wohnheimen, erst dann wurde sein Asylverfahren abgeschlossen. Er spricht von Hilflosigkeit, Diskriminierung und seelischen Schmerzen. Diese Erfahrungen seien sein politischer Antrieb.

Medien als Gegner

Auch seine Genossinnen Özlem Alev Demirel und Hamide Akbayir nennen erlebte Ungerechtigkeiten als einen Hauptgrund für ihre politische Arbeit. Die 26-jährige Demirel gehört der Strömung der Antikapitalistischen Linken an, die im Visier der Verfassungsschützer steht. Darauf angesprochen, verdreht sie die Augen.

Fragt man sie nach ihren politischen Vorbilder, Che Guevera, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Karl Marx, lacht sie nur mit tiefer Stimme. Demirel empfindet die Medien als Gegner, zu Beginn des Interviews fragt sie, welche Lügen man schon über sie gelesen habe. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurden sie und ihre Mitgenossen als "Kurdentrio" bezeichnet.

"Wenn Menschen nur wegen ihres Geburtsorts in eine bestimmte Ecke gestellt werden, ist das ethnisierend und grenzt an Rassismus. Politiker sollten für ihre Inhalte und nicht für ihren Geburtsort beurteilt werden. Das ist aber Teil einer Diffamierungskampagne gegen unsere Fraktion", kritisiert Demirel, die schnell spricht, kämpferisch, in kurzen Sätzen antwortet mit einem sehr strengem Ton. Zu sagen, die drei seien umstritten, wäre eine Untertreibung.

Denn sie werden von "Yek-Kom", der Föderation der kurdischem Vereine in Deutschland, die mit der verbotenen PKK sympathisiert, unterstützt. So forderte Yek-Kom am 15. Jahrestag des PKK-Verbots dessen Aufhebung. Die Yek-Kom hatte vor der Wahl eigens dazu aufgerufen, für die drei zu stimmen, da sie "ihren Beitrag für die Bekanntmachung der politischen Zielsetzungen in der kurdischen Bevölkerungsgruppe geleistet" hätten.

Hamide Akbayir sagt dazu, der Wahlaufruf von Yek-Kom habe nichts zu sagen; auch viele andere Migrantenorganisationen hätten dazu aufgerufen, weil alle drei für diese aktiv seien. Auch dass sie mit der türkisch- und kurdischsprachigen PKK-nahen Zeitung Yeni Özgür Politika, zusammengearbeitet haben, macht es nicht besser. Denn Vorwurf der PKK-Nähe schmettern alle drei ab - aber Gegenbeweise können sie nicht liefern.

Rückendeckung bekommen die Drei von den zwei neu gewählten SPD-Abgeordneten Serdar Yüksel und Ibrahim Yetim. "Es sei ein Versuch der Konservativen, den Linken etwas anzuhängen", glaubt Yüksel (37) und Ibrahim Yetim (45) nickt. Sie sind beide Söhne türkischer Einwanderer, geboren im Ruhrgebiet.

Schwerpunkt Bildung

Als Yetim zehn war, sei ihm empfohlen worden, trotz guter Noten die Hauptschule zu besuchen. "Weil meine Eltern nicht so gut Deutsch können, wurde uns damals gesagt", erzählt Yetim. Er ging trotzdem auf ein Gymnasium. Heute ist Bildungspolitik einer seiner Schwerpunkte. "Herkunft und soziale Situation dürfen nicht länger darüber entscheiden, ob ein Kind alle seine Talente und Möglichkeiten entfalten kann."

Ihr Migrationshintergrund sei auch bei den Sozialdemokraten Thema gewesen, berichten Yetim und Yüksel. In der Partei sei darüber gesprochen worden, ob es Sinn habe, einen Migranten für bestimmte Positionen zu besetzen. Aber da ihre beiden Wahlkreise als SPD sicher gelten, sei die Diskussion nur sehr kurz geführt worden.

Kürzlich befand die Integrationsbeauftragte der Regierung, Maria Böhmer (CDU), ein türkischstämmiger Bundeskanzler sei kein Traum mehr. Ob das wirklich vorstellbar ist in naher Zukunft? Alle sechs antworten mit einem entschiedenem "Nein". Auch wenn wir eine ostdeutsche, geschiedene Frau als Kanzlerin, einen behinderten Finanzminister, einen vietnamesischen Gesundheitsminister und einen schwulen Außenminister haben, für einen Kanzler mit einem Migrationshintergrund ist die Zeit noch nicht reif, sagt einer der sechs.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.