Missbrauch und Gewalt in Jugendheimen: Sex für ein paar Zigaretten

Missbrauch und Gewalt in Internaten und Heimen war vor ein paar Monaten noch ein großes Thema, dann wurde es still. Zu früh, wie das Beispiel einer Einrichtung nahe Trier zeigt.

Durch die Odenwaldschule kam die Missbrauchsdebatte in Gang. Bild: dpa

Felix* wirkt aufgewühlt, wenn er von seinem letzten Arbeitsplatz erzählt: "Die Jugendlichen sind häufig mit Gegenständen auf uns losgegangen, zum Beispiel mit Stühlen. Einmal hat ein Kollege sogar eine Steinplatte gegen den Kopf bekommen. Prellungen bei den Erziehern waren an der Tagesordnung, es gab aber auch offene Wunden."

Bis vor einigen Monaten hat er in dem Haus auf dem Wehrborn gearbeitet, einem Kinderheim in der Nähe des kleinen Örtchens Aach bei Trier. Zwischen 50 und 100 Kinder und Jugendliche sind hier in sieben Wohneinheiten untergebracht. Felix war als Erzieher in einer sogenannten Intensivgruppe eingesetzt.

Hier werden die ganz harten Fälle einquartiert, Jugendliche, die sonst nirgends mehr genommen werden. Die meisten sind vernachlässigt herangewachsen, wurden Opfer von Gewalt und Missbrauch in der Familie. Entsprechend hat der Großteil schon mit 16 Jahren kriminelle Karrieren hinter sich, war in verschiedenen Heimen, in der Psychiatrie oder im Gefängnis.

Auch sexuell sind viele der Jugendlichen verwahrlost. "Die bieten ihren Körper anderen Jugendlichen gegen Sachleistungen an. Ein Päckchen Zigaretten ist hier schon mal einen Blowjob wert", erzählt Felix. "Es gab 11-Jährige, die ungeschützt mit 13-Jährigen geschlafen haben. 15-Jährige hatten Sex und ließen 8-Jährige dabei zuschauen." Das sei von den Erziehern nicht toleriert worden, aber man könne die Kinder nicht durchgehend überwachen.

Zwar sind die Gruppen zum Teil nach Geschlechtern getrennt und in verschiedenen Häusern untergebracht, aber sie treffen sich täglich in der angegliederten Hauptschule oder auf dem Hof der Anlage. Drogen nehmen fast alle auf dem Wehrborn. "Wenn die nicht an herkömmliche Rauschmittel wie Haschisch, Pep oder Ecstasy herangekommen sind, haben sie Klebstoff oder Deosprays inhaliert", berichtet Felix.

Auf Anfrage der taz reagierte die Heimleitung mit einem vierseitigen Schreiben auf die geschilderten Zustände. Von den angeblichen sexuellen Handlungen unter den Jugendlichen wisse man nichts. "Sichtbare Folgeerscheinungen ihrer bisherigen Sozialisation sind eine gesteigerte Gewaltbereitschaft (gegen sich oder gegenüber anderen), Konsum von legalen und illegalen Drogen oder sexuell auffälliges Verhalten", heißt es in dem Schreiben. Aber sollte man Kinder, die diesen Hintergrund teilen, zusammen in eine Wohneinheit stecken? Macht so ein Konzept Sinn?

"Solche Intensivgruppen sind ein Sammelbecken für extreme Jugendliche mit ganz unterschiedlichen Symptomen", sagt Josef Koch von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen, "sie führen nur dazu, dass sich die Jugendlichen gegenseitig hochpushen. Das steigert die Gewalt untereinander und gegen die Erzieher."

Vier Intensivgruppen mit insgesamt bis zu 35 Jugendlichen gibt es auf dem Wehrborn, der Rest ist in Regelgruppen untergebracht. Die Übergänge, wer wo eingeteilt wird, sind jedoch fließend - je nach Belegung. So geht es auch in den Regelgruppen, wo eigentlich weniger schwierige Jugendliche unterkommen sollten, oftmals hart zur Sache.

Für viele schwere Fälle, meinen Experten, sind diese Einrichtungen überhaupt nicht geeignet. "Es gibt einen Prozentsatz, der so massiv rebelliert, dass Gruppen einfach nichts bringen. Die bräuchten Individualbetreuung", erklärt Mathias Schwabe, Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule Berlin.

Sean, 18, Sohn eines Luxemburger Banker-Ehepaares, war mehrere Monate auf dem Wehrborn untergebracht. Per E-Mail schildert er der taz die Verhältnisse: "In meiner Gruppe wurde auf einmal alles negativ. Es kam zu mehreren Schlägereien. Die Jugendlichen hatten keinen Respekt mehr vor den Betreuern. Wir haben randaliert, bis mehrere Polizisten kommen mussten. Jeder wurde aggressiv und ich war der Aggressivste von allen. Die Betreuer konnten das natürlich nicht mehr aushalten. Manche haben gekündigt und der Rest hat nach jeder Kleinigkeit fixiert und in die Psychiatrie eingewiesen. Manche sind dann einfach abgehauen oder in den Knast gekommen."

Auch Tanja* bestätigt diese Schilderungen. "Wir haben zwischendurch eine neue Heimleitung bekommen, aber da wurde es nur schlechter." Im Heim gebe es ein Fressen oder Gefressenwerden. "Gangs üben Druck aus", sagt Tanja. "Die Kinder werden bei uns entweder aggressiv oder sie haben die schlimmste Zeit ihres Lebens."

In manchen Situationen fürchtete Felix während seiner Arbeit sogar um sein Leben. "Es gab einen Fall, da haben sich die Jugendlichen zusammengeschlossen und mit Steinen auf die Betreuer geworfen", sagt er. "Den Kollegen blieb nichts anderes übrig, als sich im Büro einzusperren und auf die Polizei zu warten." Anders als die im Heim angestellten Erzieher und Pädagogen darf die Polizei härter durchgreifen: Jugendliche mit Handschellen fixieren und mitnehmen.

Tanja und ihre Kollegen haben dagegen kaum eine Handhabe gegen die Gewaltausbrüche. "Wir müssen Jugendliche oft zu viert festhalten. Allein hätten wir keine Chance, vor allem wenn die groß und schwer sind. In der Regel liegen wir dann ungefähr eine halbe Stunde auf jemandem drauf. Wenn die dann nicht runterkommen, müssen wir im Krankenhaus anrufen, damit die uns erlauben, Medikation zu geben."

Weigere sich das Kind diese Mittel zu nehmen, müssen die Polizei und der Notarzt gerufen werden. Meist sei dann eine Einweisung in die Psychiatrie notwendig. "Das geht aber nur, wenn das Krankenhaus, mit dem wir zusammenarbeiten, bereit ist aufzunehmen", sagt Tanja. Nicht immer sei das der Fall.

Und die Erzieherin sieht noch ein weiteres Problem: Um das Heim auszulasten, versuche die Leitung so viele Jugendliche wie möglich auf dem Wehrborn zu halten und verschärfe damit die grundsätzlichen Probleme bei Intensivgruppen. "Was sich in letzter Zeit ganz deutlich zeigt, ist, dass eben massive Geldrückstände da sind und darum die Aufnahmebedingungen heruntergesetzt wurden. Es gibt keine Kriterien mehr. Wir nehmen alle, auch Kinder, denen wir pädagogisch nicht helfen können", sagt Tanja, "da kann auch unser Erziehungsleiter nichts machen. Was die Chefs sagen, ist Gesetz."

Dass Heime wie das Wehrborn unter wirtschaftlichem Druck arbeiten, bestätigt auch Erziehungsfachmann Koch: "Die Intensivgruppen bieten für Einrichtungen die Möglichkeit, mehr Geld zu machen. Die werden aufgemacht, um die Kinder zu entsorgen, während die Heime davon profitieren. Mehr Geld sollte aber eigentlich bessere Rahmenbedingungen bedeuten." Die seien häufig nicht gegeben.

In ihrem Statement versucht die Heimleitung zu beschwichtigen: Es könne in Grenzsituationen vorkommen, dass man Jugendliche festhalten müsse. Es gebe ein spezielles Einarbeitungskonzept und entsprechende Fortbildungen für die Mitarbeiter. Weiter heißt es: "In größeren Einrichtungen besteht immer die Gefahr, dass Subkulturen entstehen." Zu den heruntergesetzten Aufnahmebedingungen äußert sich die Leitung nicht.

Für Felix klingt das wie Hohn: "Ich war gezwungen, pädagogisch falsch zu arbeiten." Auf Kritik hätten seine Chefs mit Schönreden reagiert. "Alles wird von der Leitung unter der Decke gehalten", sagt auch Tanja. Es gebe heroinabhängige Jugendliche mit Hepatitis C und das Personal werde nicht informiert. "Eine Kollegin wurde neulich von einer möglicherweise Infizierten gebissen", erzählt Tanja weiter, "und sie weiß nicht, ob sie sich angesteckt hat. Testen könne man erst in sechs Monaten."

Auch auf diese Vorwürfe haben die Heimleiter eine Antwort: "Das Konzept zur hausinternen Drogenprävention wird derzeit überarbeitet", heißt es in ihrem Statement. Wieso die Belegschaft über eine mögliche Infektionsgefahr nicht informiert worden ist, bleibt offen. Aber: Man böte Verhaltenstrainings für solche Situationen an.

Zuständig für die Aufsicht über das Heim ist das Landesjugendamt in Mainz. Auf Anfrage der taz zu den Zuständen im Wehrborn gab es von dort bisher keine Antwort. Und in der Verwaltung des Kreises Trier-Saarburg weiß man nur von einem schwerwiegenden Vorfall. "In einem Fall aus dem Jahr 2009 wurde uns sowohl von der Heimleitung als auch von der Polizei mitgeteilt, dass ein Mündel des Kreises von einer Mitbewohnerin tätlich angegriffen wurde", schreibt ein Sprecher in einer Mail. Die Angreiferin habe von mehreren Mitarbeitern der Einrichtung festgehalten und schließlich in die Psychiatrie gebracht werden müssen. Darüber hinaus seien keine weiteren Vorkommnisse bekannt.

Die schwierige Situation im Wehrborn hält Experte Josef Koch für keinen Einzelfall. "Da gibt es sicher eine hohe Dunkelziffer. Gewalt ist ein tabuisiertes Thema, weil die Häuser möglicherweise dichtmachen müssen, wenn das bekannt wird."

"Vielleicht", sagt Tanja, "wäre genau das die richtige Lösung." Wie lange sie noch auf dem Wehrborn arbeiten will, weiß sie nicht. Zum Glück für sie kann sie kündigen. Die Jugendlichen können das nicht.

*Name von der Redaktion geändert

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