Interview über Vergewaltigungs-Prozesse: "Würgemale am Hals"

Heute begann der viel beachtete Prozess gegen Jörg Kachelmann: Rechtsmedizinerin Saskia Guddat über das Dilemma von Missbrauchsopfern und die Probleme der Spurensicherung.

Oft ein Hinweis auf eine Vergewaltigung: Würgespuren. Bild: AllzweckJack / photocase

taz: Frau Guddat, Sie haben als Rechtsmedizinerin mehrfach Opfer von Vergewaltigungen untersucht. Wie ging es den Frauen, die zu Ihnen kamen?

Saskia Guddat: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt Frauen, die sehr distanziert, sehr beherrscht sind. Wenn eine Frau schnell Schutzbarrieren hochziehen kann, dann ist sie ruhiger. Bei manchen hat man das Gefühl, dass sie sich von der Sache in kurzer Zeit psychisch abgespalten haben. Es gibt aber auch Frauen, die sehr aufgewühlt sind, die noch stark unter dem Eindruck des Geschehenen stehen.

Die Berliner Charité arbeitet seit Juni in einem Pilotprojekt mit dem Landeskriminalamt zusammen. Die Opfer sollen mit Fingerspitzengefühl untersucht und Spuren besser gesichert werden. Was genau tun Sie?

Die Polizei kommt mit Frauen oder auch Männern, die Anzeige erstattet haben, in eine der drei Rettungsstellen der Charité. Bis jetzt gab es in Berlin keine gerichtsfeste standardisierte Dokumentation für Opfer sexualisierter Gewalt. Wir haben ein Verfahren entwickelt, wie man Befunde so sichert, dass sie vor Gericht Bestand haben.

Saskia Guddat, 29 ist Ärztin im Institut für Rechtsmedizin an der Berliner Charité.

Berlin: Das Pilotprojekt läuft seit Anfang Juni und noch bis Ende Dezember. Sowohl Pflegekräfte als auch Rechtsmediziner, Gynäkologen und Chirurgen sind daran beteiligt. Bisher trägt die Charité die Kosten selbst.

Hamburg: Andere Städte sind weiter als Berlin. Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf gibt es eine der ältesten Gewaltopferambulanzen Deutschlands. Betroffene können sich dort betreuen und untersuchen lassen. Spuren werden so gesichert, dass sie vor Gericht zu verwenden sind.

München und Münster: Hier wurden inzwischen Gewaltopferambulanzen eingerichtet. "Das ist immer auch eine Frage des Geldes", sagt Angela Wagner vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

Frankfurt: Hier können sich Opfer sexueller Gewalt untersuchen und Spuren sichern lassen, ohne Anzeige erstatten zu müssen. Den Befund bewahren die Rechtsmediziner ein Jahr lang auf. In diesem Zeitraum kann die Betroffene entscheiden, ob sie zur Polizei gehen will oder nicht. Meldet sie sich nicht, werden die Spuren vernichtet.

Bundesweit: Hilfsangebote in ganz Deutschland unter www.frauen-gegen-gewalt.de

Wie gehen die Charité-Mitarbeiter vor?

Die Ärzte sichern zunächst DNA-Spuren, damit man den Täter identifizieren kann. Das ist aber nur ein Aspekt. Die Anwälte der Beschuldigten raten ihren Mandanten heute häufig, den Sexualkontakt zuzugeben, aber zu sagen, dass er freiwillig war. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Ärzte den gesamten Körper anschauen. Sie müssen Verletzungen fotografieren und schriftlich festhalten. Wenn der Angeklagte vor Gericht zum Beispiel behauptet, der Sexualkontakt sei freiwillig gewesen, das Opfer hatte aber Würgemale am Hals, dann passt das offensichtlich nicht zusammen.

Kaum zu glauben, dass es in Berlin bisher keine standardisierten Untersuchungen gab.

Es passierte immer wieder, dass Polizisten bei uns in der Rechtsmedizin angerufen haben. Sie waren in anderen Kliniken abgewiesen worden, weil man dort keine Zeit oder kein Know-how hatte, um sich um das Opfer zu kümmern. Es kam auch vor, dass die gesicherten Spuren später schimmelten. Oder dass Verletzungen nicht dokumentiert wurden. Deshalb ist das Pilotprojekt so wichtig. Wenn Frauen den Mut aufbringen anzuzeigen, sollen sie das nicht umsonst gemacht haben. Sie nehmen diesen oft qualvollen Weg auf sich. Trotzdem wird der Täter am Ende freigesprochen, weil Aussage gegen Aussage steht und die gerichtsverwertbaren Spuren fehlen. Da kommt es dann zur sekundären Viktimisierung, die Frauen werden zum zweiten Mal Opfer.

Wer sexuelle Gewalt erfahren hat, ist meist traumatisiert. Inwiefern nehmen die Ärzte darauf Rücksicht?

Die Ärzte wurden im opferzentrierten Umgang von einer Psychologin geschult. Zunächst gibt es ein Gespräch, in dem geklärt wird, was passiert ist. Danach beginnt die Spurensicherung. Wenn etwa gebissen, geleckt oder geküsst wurde, findet man DNA-Spuren. Sich für die Untersuchung des Körpers auszuziehen, ist für viele Opfer schwierig. Deshalb bitten die Ärzte darum, einzelne Körperteile zu entkleiden.

Auch wenn das lange dauert und draußen andere Patienten warten?

Natürlich. Die Ärzte geben dem Opfer auch die Zeit, sich zwischendurch Pausen zu nehmen, sich wieder anzuziehen. Die Patientin bestimmt, was stattfindet und in welcher Geschwindigkeit es stattfindet. Das kann dann auch ein erster Schritt sein, die Gewalt über den eigenen Körper, die Selbstbestimmung zurückzugewinnen. Denn das ist ja das Problem bei Sexualdelikten.

Was passiert, wenn die Frau oder der Mann sagt: "Ich kann nicht mehr"?

Dann stoppt das Ganze. Dann gibt man dem Opfer Zeit, sich wieder zu fangen.

Und wenn es das nicht tut?

Meine Erfahrung ist, dass sich die Opfer immer wieder stabilisieren. Wichtig ist, dass die Ärzte ehrlich sagen, was sie tun und warum sie etwas tun. Ganz am Ende folgt die gynäkologische Untersuchung oder, bei männlichen Opfern, die proktologische Untersuchung im Analbereich.

Die allermeisten Täter sind Männer. Die Nähe eines männlichen Arztes könnte bei den Opfern Ängste auslösen.

Deshalb bemühen wir uns um gleichgeschlechtliche Untersuchungen. Es wird aber sicherlich Situationen geben, in denen gerade keine Ärztin anwesend ist. Wenn ein Mann untersucht, dann bleibt immer auch eine weibliche Pflegekraft dabei.

Was sind denn typische Verletzungen, die man nach einer Vergewaltigung findet?

Beim Herunterreißen des Slips kann das Opfer mit dem Fingernagel verletzt worden sein. Wenn der Täter gewaltsam am BH-Träger gezerrt hat, sieht man das hinterher manchmal auch. Klassische Verletzungen sind aber auch Griffspuren an den Oberarmen oder Hautunterblutungen an den Beinen, die dadurch entstehen, dass gewaltsam die Oberschenkel auseinandergedrückt wurden. Auf all das achten unsere Ärzte. Sie schauen auch, ob es Punktblutungen in der Gesichtshaut gibt. Die sind ein Hinweis darauf, dass das Opfer in Lebensgefahr schwebte. Wobei man sagen muss: Verletzungen sehen wir nur in 50 Prozent der gesicherten Vergewaltigungen. Wenn der Täter eine Waffe hat, wird sich das Opfer wahrscheinlich nicht wehren und trägt auch keine Verletzungen davon. Trotzdem ist es vergewaltigt worden.

Kürzlich hat der pensionierte Berliner Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge gesagt, dass er seiner Tochter nach einer Vergewaltigung von einer Anzeige abraten würde. Können Sie das verstehen?

Sicherlich ist es für viele Frauen schlimm, vor Gericht alles minutiös darzulegen und am Ende möglicherweise zu sehen, dass der Beschuldigte freigesprochen wird. Insofern kann ich Herrn Karges Aussagen nachvollziehen. Aber ich bin nicht der Meinung, dass wir als Gesellschaft akzeptieren sollten, dass es sexualisierte Gewalt gibt. Von einer Anzeige abzuraten, halte ich deshalb für falsch.

Für das einzelne Opfer mag es trotzdem der richtige Weg sein.

Aber das hat möglicherweise Konsequenzen für andere. Schauen Sie sich Serientäter an. Wie viele Frauen müssen dran glauben, bis eine anzeigt?

Was schlagen Sie vor?

Wenn etwas im Argen liegt, muss man es ändern. Die Situation der Opfer ist in Berlin in der Tat nicht gut. In anderen Städten wie in Hamburg gibt es eine Gewaltopfer-Ambulanz, an die sich Frauen und Männer, die Gewalt erleben, wenden können. Rechtsmediziner und Gynäkologen untersuchen dort gemeinsam die Opfer sexualisierter Gewalt, um Spuren optimal zu sichern und Verletzungen zu dokumentieren. Etwas Vergleichbares hat Berlin bislang nicht. Das ist auch ein Grund, warum wir das Pilotprojekt ins Leben gerufen haben.

Falls eine Frau nicht gleich Anzeige erstatten will, kann sie sich trotzdem an Sie wenden und später entscheiden, ob sie zur Polizei geht?

Leider nein. Anders als etwa in Hessen oder Nordrhein-Westfalen haben wir in Berlin bis jetzt nicht die Möglichkeit der anonymisierten Spurensicherung. An der Charité gibt es zwar eine Anlaufstelle für Opfer häuslicher Gewalt. Dort werden aber nur Verletzungen dokumentiert, nicht die DNA-Spuren gesichert. Das derzeitige Pilotprojekt richtet sich tatsächlich nur an Frauen und Männer, die in Polizeibegleitung kommen. Die Ärzte geben den Beamten die Ergebnisse der Untersuchungen mit. Wir haben in der Klinik schlicht nicht die Möglichkeit, die Spuren so wegzuschließen, dass sie vor Gericht Bestand hätten.

Wie schnell muss das Opfer nach der Tat Anzeige erstatten, damit die Untersuchung Beweise bringt?

Innerhalb der ersten 72 bis 78 Stunden ist es noch möglich, die DNA zu sichern. Liegt der Vorfall Wochen zurück, können wir nichts mehr machen.

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