Sammelband zur Tanzforschung: Bewegung als Wissen

Was haben moderne Tanzschritte mit der Gravitationsthese von Einstein zu tun? Im Sammelband "Tanz als Anthropologie" geht es um neue Lesarten des Phänomens Tanz.

Tanz ist immer gegenwärtig - besonders Nachts. Bild: dpa

In einer kurzen Erzählung von Franz Kafka versucht ein Philosoph der Faszination eines tanzenden Kreisels auf die Spur zu kommen - und hält am Ende immer nur enttäuscht "das dumme Holzstück" in der Hand. In den wenigen Sätzen dieser Fabel findet sich im Grunde die ganze Krux der Tanzforschung. Zwar haben sich die Schwierigkeiten der Fixierung von Tanz als Untersuchungsgegenstand durch die Möglichkeiten digitaler Aufzeichnung relativiert. Wesentlich ist aber etwas anderes: Die Analyse - das Anhalten, Zerlegen und Betrachten - des Tanzes birgt immer die Gefahr, seine eigentliche Bedeutung und Faszinationskraft gleich mit zum Stillstand zu bringen.

Wenn Gabriele Brandstetter, Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin, und der Erziehungswissenschaftler und Anthropologe Christoph Wulf nun einen umfangreichen Sammelband mit dem Titel "Tanz als Anthropologie" herausgegeben haben, dann tragen sie der Gefahr der möglichen Stillstellung gleich in doppelter Weise Rechnung. Zum einen zeichnen sich die Beiträge durch eine geradezu unüberschaubare inhaltliche Breite aus: Nicht nur um Tanz als Bühnenperformance in den unterschiedlichen Epochen geht es, sondern genauso um religiöse und kulturelle Tanzrituale oder um neue Phänomene wie die Flashmobs, spontane Performances, die als Formen sozialer Bewegung betrachtet werden. Ergänzt wird diese bewusste Heterogenität des Bandes zum anderen dadurch, dass die Beiträger selbst aus den verschiedenen Ländern und Disziplinen kommen, sodass die Perspektiven auf das Thema Tanz möglichst facettenreich und wenig starr geraten sind.

Christoph Wulf nennt den Tanz das "Fenster" einer Kultur: Dass Tanz ein Medium ist, das Bilder vom Menschen und Bilder von Gesellschaften produziert und gleichzeitig die Funktion haben kann, diese kulturellen Gemeinschaften zu stiften und zu tradieren, wird in diesem Sammelband in zum Teil sehr speziellen und durchaus lesenswerten Einzelstudien vorgeführt. Wie etwa in dem Beitrag von Helen Thomas, die erforscht hat, warum es eine Tradition des europäischen Gesellschaftstanzes Quadrille auch in der Karibik geben kann.

Bemerkenswerter ist aber eine andere Idee, die vor allem Brandstetter in ihrem Beitrag "Tanz als Szeno-Graphie des Wissens" diskutiert. Tanz nehme deshalb immer noch eine marginale Stellung innerhalb anthropologischer Forschungen ein, weil sich außerhalb von Expertenkreisen niemals so etwas wie eine Tanzschrift hat etablieren können, erklärt Brandstetter. Ein Notationssystem also, mit dem Tanz systematisch und allgemein verständlich diskursivierbar wird. Das ist nun aber Brandstetter zufolge gar nicht als Manko zu verstehen. Gerade weil Tanz ein Wissen vom Menschen vermittelt, das nicht nur körperlich-praktisch, sondern auch dynamisch ist, kann man ihm nämlich gar nicht mit den tradierten Methoden der Erkenntnis begegnen. Und deshalb dreht Brandstetter das Ganze einfach um: Aus der Betrachtung des Tanzes müsse eine neue Art des Wissens generiert werden, so ihr Fazit, das sich der Beweglichkeit des Mediums anpasst.

Es sind vor allem die zuweilen spekulativen, anekdotisch angehauchten Beiträge des Bandes, in denen diese Korrelation von Tanz und Wissen einleuchtet. So wie im Versuch des Physikers Rainer Gruber, die Entstehung von Einsteins Relativitätstheorie an die Innovationen zu koppeln, die man zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Tanzbühnen beobachten konnte. Natürlich ist gerade für die frühe Moderne vielfach die Bedeutung neuer Ästhetiken für die Entwicklung philosophischer und erkenntnistheoretischer Konzepte betont worden. Gruber liefert hierzu aber eine durchaus originelle Ergänzung: Ist es Zufall, fragt er, dass Einsteins These zur Gravitation, nach der im luftleeren Raum alle Körper gleich schnell beschleunigt werden, zeitlich mit einer Veränderung von Tanzkonventionen einhergeht? Während im klassischen Ballett das Schweben im Zentrum steht, rückt nämlich im modernen Tanz die Figur des Falles in den Vordergrund, und um die geht es ja eben auch in Einsteins Gravitationsthese. Gruber stellt diese Korrelation als eine Denkmöglichkeit vor, ohne darauf zu beharren, dass es sich mit letzter Sicherheit so zugetragen hat. Gerade dieses Bemühen des Bandes, auf Dogmatik zu verzichten und stattdessen Lesarten von Tanz und Performances probeweise vorzustellen, macht ihn zu einer kleinen Anleitung für das Erfassen der Assoziations- und Wissensräume, die der Tanz dem Betrachter öffnen kann.

Natürlich fehlt es den Texten auch nicht an Empathie. Denn darin sind sich alle einig: Tanz ist zwar immer und allgegenwärtig, aber trotzdem wird ihm bei weitem zu wenig Aufmerksamkeit und Bedeutung beigemessen.

Gabriele Brandstetter u. Christoph Wulf (Hg.): "Tanz als Anthropologie". Wilhelm Fink Verlag, München 2007, 338 Seiten, 49,90 Euro

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