Ungarns Rolle beim Mauerfall: Kleine Öffnungen, gewaltige Folgen

Haben die Ungarn im Jahr 1989 den Ostblock aufgelöst? Und das ganz ohne Kalkül, beinahe zufällig? Diese Thesen vertritt Andreas Oplatka in "Der erste Riss in der Mauer".

DDR-Bürger fliehen von Ungarn nach Österreich: Bei einem paneuropäischen Picknick im August 1989 war ein Grenztor symbolisch geöffnet worden. Bild: dpa

Was eigentlich geschah genau in jenem Jahr 1989, in dem die bis dahin bekannte und weitgehend schon stillschweigend akzeptierte Weltordnung so schnell verschwand? Die meisten Menschen gehen davon aus, das Datum der Maueröffnung kennzeichne den Tag, an dem der Ostblock und mit ihm das Experiment vom realen Sozialismus zusammenbrach. Die Berliner Mauer war schließlich aufgrund eines Versprechers von Günter Schabowski geöffnet worden, Tausende überrannten daraufhin die Grenzübergänge.

Doch die Grenzübergänge, die in den Abendstunden des 9. November 1989 geöffnet wurden, waren nicht die ersten Löcher im "Eisernen Vorhang". Bereits einige Wochen zuvor hatten die Ungarn zunächst ihre Grenzanlagen an ihrer Grenze zu Österreich abgebaut. Die Bilder von der Mauer allerdings waren symbolträchtiger. Daher haben sie die Bedeutung der ungarischen Grenzöffnung verdrängt.

Entsprechend heißt das Buch, das die Vorgänge um diese Grenzöffnung nachzeichnet, etwas merkwürdig: "Der erste Riss in der Mauer". Andreas Oplatka, ein gebürtiger Ungar mit Wohnsitz in Zürich, der lange Jahre Redakteur der NZZ war und nun Professor an der deutschsprachigen Universität Andrássy Gyula ist, beschreibt in seinem Buch die Zeit nach dem verhältnismäßig freundlichen "Gulasch-Kommunismus" Ungarns, nach der ersten Demokratisierungswelle, nach der massenhaften Einreise von DDR-Bürgern in das sozialistische Bruderland und vor dem Einreißen der Grenzanlagen.

Am Freitag stellte er sein Buch in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin vorab vor, ihm zur Seite gesetzt wurden einige prominente Koreferenten, die allerdings die Gelegenheit nur nutzten, um ihre eigene Rolle zu verklären. Viktor Orbán, ehemaliger Ministerpräsident und heutiger Oppositionsführer im ungarischen Parlament, hielt nach Oplatkas Vortrag eine launige Rede, in der er vor allem eurozentristische Politik machte und sich fragte, inwieweit die Ziele, die er sich nach 1989 gesetzt hatte - Marktorientierung, hoher Lebensstandard, Demokratisierung -, verwirklicht worden sind. Er warb für eine Abgrenzung zu Russland und zu den USA und für ein noch größeres Misstrauen gegenüber China und Indien. Nun ja. Der 45-jährige Politiker, der seit seinen Studentenjahren auf den großen Bühnen agiert, hat sich offenkundig eine gewisse nationalbewegte Heißspornigkeit bewahrt.

Anschließend fand sich eine größere Diskussionsrunde zusammen, die Oplatkas Thesen rundweg bestätigte, doch kaum diskutieren wollte. Wenn man dem ehemaligen Minister und Reformkommunisten Imre Pozsgay glauben darf, wollte die ungarische Regierung die Sowjets um 1989 herum "austesten". Als ihm gemeldet wurde, dass abgesicherte Grenzanlangen an der damaligen ungarisch-sowjetischen Grenze errichtet wurden, nachdem die Ungarn gegenüber dem Kreml die Möglichkeit einer Grenzöffnung angedeutet hatten, erkannte er dies "als gutes Zeichen". Dennoch hielt er sich, für den Fall der Fälle, bei den ersten Grenzöffnungsaktionen im Hintergrund. Eine dieser Aktionen fand im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks statt, das der ebenfalls anwesende László Magas mitorganisiert hatte. Als man symbolisch ein Grenztor für drei Stunden öffnete, das seit dem Zweiten Weltkrieg verschlossen gewesen war, nutzen rund 600 DDR-Bürger die Gelegenheit zur Flucht in den Westen.

Ungarn hatte kurz zuvor aus nationalstaatlichen Erwägungen - einige Angehörige der ungarischen Minderheit aus Rumänien waren nach Ungarn geflohen, nach den Regeln des Warschauer Pakts hätten sie rücküberführt werden müssen - die Genfer Flüchtlingskonvention unterschieben, um eine Abschiebung zu verunmöglichen. Dieser Umstand kam den DDR-Ausreisewilligen in Ungarn zugute. Axel Hartmann, damals Mitarbeiter des Kanzleramtsministers Seiters, schätzte die Situation zwar richtig ein ("Das gibt Arbeit"), aber auch völlig falsch - dass der Eiserne Vorhang verschwinden könne, hat er nicht geahnt.

Haben also die Ungarn den Ostblock aufgelöst? Und das ganz ohne Kalkül, sondern beinahe zufällig? Fast scheint es so. Über den Westen und seine "Gier", wie Viktor Orbán es nannte, die er wie viele Osteuropäer allein in den USA verkörpert sieht, können sich die Ungarn allerdings nicht beschweren. Sie haben sie sich selbst hereingeholt, im Guten wie im Bösen.

Andreas Oplatka: "Der erste Riss in der Mauer. September 1989 - Ungarn öffnet die Grenze". Zsolnay Verlag, Wien 2009, 304 Seiten, 21,50 €

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.