Soziologin Saskia Sassen über Bürgerrechte: "Migranten machen Geschichte"

Bürgerrechte entstanden aus dem Konflikt verschiedener Interessensgruppen. Heute sind es Einwanderergruppen, die nach Saskia Sassen, das Projekt der Freiheit fortschreiben.

Demo zum Jahrestag der Marthin-Luther-King-Rede "I have a dream...". Bild: dpa

taz: Frau Sassen, in Ihrem neuen Buch "Das Paradox des Nationalen" beschreiben Sie die Veränderung einer Institution wie der "Staatsangehörigkeit". Was meinen Sie damit?

Saskia Sassen: Ich denke, in der Diskussion über Fragen der Staatsangehörigkeit werden häufig zwei Aspekte durcheinandergebracht: die zutiefst formalisierten - wie: Wer ist wahlberechtigt? - einerseits und ein breiteres Verständnis von Zugehörigkeiten andererseits.

Worin bestehen diese Zugehörigkeiten?

Dazu gehört der Besitz von politischen Rechten, also politisch aktiv sein zu dürfen. Aber auch kollektive Identitäten sind damit gemeint, die ebenfalls zu einer staatsbürgerlichen Praxis gehören. Globalisierung, Transnationalisierung und viele Arten von Migration haben heute das Verhältnis von formalen Rechten zugunsten aktueller Erfahrungen und Praktiken der Zugehörigkeit verändert. Viele Verhältnisse sind heute unbestimmter, es ist nicht mehr wie vor zwanzig Jahren. Früher gab es so eine Eindeutigkeit, etwa in der alten Bundesrepublik: Immigranten waren Gastarbeiter. Heutige Gesellschaften bestehen in Westeuropa überall aus Einwanderergemeinschaften.

Ist das eine eindeutig positive Entwicklung?

Nein. Es ist vielmehr so: Staatsangehörigkeit im engeren und weiteren Sinn wird von zwei sehr starken Tendenzen bestimmt. Eine geht in Richtung einer Entnationalisierung der Ökonomie, aber auch der Frage der Identität, der Identitätserfahrungen. So gibt es etwa Menschen, die sich als globale Aktivisten verstehen. Auf der anderen Seite haben wir eine Renationalisierung der Politiken der Zugehörigkeit. Sie finden in den USA und in Europa starke antimigrantische Gefühle. Etwa die Kennzeichnung: Jobs nur für Inländer. Meine Forschung bezieht sich auf den Schnittpunkt dieser beider Tendenzen der De- und der Renationalisierung, die beide aus demselben hervorgehen. Deshalb lautet auch der Titel meines Buches: Das Paradox des Nationalen.

Würden Sie diese erweiterte Staatsangehörigkeit als postnational bezeichnen?

Ich operiere mit einer anderen Kategorie. Denn ich bin mir nicht sicher, ob wir es wirklich mit einer postnationalen Staatszugehörigkeit zu tun haben. Natürlich ist die EU gewissermaßen postnational. Aber das ist eine sehr "dünne" Staatszugehörigkeit. Mir scheint es angebrachter, von Entnationalisierung zu sprechen. Wir haben es heute mit der Erfahrung von Zugehörigkeit zu gewissen Arten von Öffentlichkeiten zu tun, die wir als global bezeichnen können. Denken Sie an all die Menschenrechtsaktivisten auf der ganzen Welt, die global engagiert sind - egal in welchem Land sie sich aufhalten. Ihre Identität bestimmt sich sehr schnell an den anderen Menschen, die in diesen Kampf involviert sind, unabhängig von deren Herkunft. Das wird Teil ihrer Identität. Sie vollziehen also eine Trennung zwischen den formalen Rechten und all den anderen Dingen, die nicht an den Nationalstaat gebunden sind. Und doch sind sie keine globalen, sondern eher entnationalisierte Bürger. In diesem Sinne könnte man dies als eine Art von horizontaler Globalisierung bezeichnen.

Im Unterschied zu einer vertikalen Globalisierung des Kapitals?

Genau. Und diese - im Unterschied zu jener eines vertikal integrierenden institutionellen Apparats wie etwa der WTO - ist nicht einfach nur an Mobilität oder an die neuen Technologien gebunden, sie hat auch andere Quellen: Eine wirkliche, echte Überzeugung, dass man den Menschenrechtskampf, den Umweltkampf, den feministischen Kampf führen muss. Das sind die treibenden Kräfte, die diese Art von teilweiser Entnationalisierung bewirken, im Gegensatz zu jenem hochmütigen Kosmopolitismus.

Sehen Sie in dieser Entnationalisierung also einen emanzipatorischen Fortschritt?

Ja und nein, das globale Kapital ist eigentlich entnationalisiertes Kapital, und als solches war es enorm destruktiv. Menschenrechts- oder Umweltkämpfe hingegen finde ich sehr begrüßenswert. In diesem Sinne würde ich sagen: Entnationalisierung ist nicht per Definition emanzipatorisch. Manchmal ist sie es, manchmal nicht.

Eine Ihrer Hauptthesen lautet, dass die Ausgeschlossenen, die Benachteiligten, die Migranten …

… Geschichte machen, ja. Migranten entnationalisieren die politische Zugehörigkeit. Aber zur gleichen Zeit lösen sie auch deren Renationalisierung aus. Migranten machen Geschichte, weil sie die Politik der Zugehörigkeit erschüttern, aber auch weil ihre Schwäche obsessive Kontrollen "hervorruft". Wir müssen dringend dazu forschen und beginnen, neue Geschichten zu erzählen. Auch in Europa müssen wir unbedingt die Art, wie wir über Migration sprechen, ändern.

Erzählen Sie nicht bereits eine neue Geschichte, wenn Sie über die neue Macht der Migranten sprechen?

Ich hoffe schon. Schauen Sie: Wir haben minorisierte Bürger. Doch sind sie es, die auch politische Akteure sind. Sie verschieben so auch die Grenzen der Bürgerrechte. Wir nehmen die Bürgerrechte oft als selbstverständliche Qualität. Aber historisch gehen sie aus dem Konflikt verschiedener Parteien hervor. Sie sind nicht einfach da. Eine der größten Errungenschaften der europäischen Städte ist also das Produkt von Konflikten. Heute sind die Städte ökonomisch und sozial gemischt. Die globale Stadt besteht aus dem Mischen und dem Einverleiben von Differenzen. Migranten erzählen hier eine größere Geschichte - die Geschichte des Wandels, der Veränderung.

Aber wie muss man sich diese Veränderung denken - als explizit politischen Kampf?

Es gibt da zwei Fälle. Der eine besteht im formellen Einfordern von Rechten, das stets eine lange Zeitspanne in Anspruch nimmt. Ein anderer Punkt ist das Aufkommen eines informellen politischen Aktivismus. Sie können ein Migrant sein oder ein Bürger, sie können schwul sein oder queer, ein minorisierter Bürger, ein fröhlicher Anarchist - als all dies können Sie sich in einer Art von Politik engagieren, die heute Teil des Politischen geworden ist. Der formale politische Apparat wird zusehends unfähiger, sich diesen Erfahrungen anzupassen. So erhält etwa die Politik des Rechts auf die Stadt, auf den Raum zunehmende Bedeutung. Migranten sind wichtige Akteure dabei. Die Sans Papiers sind heute wesentlich mehr als nur unregistrierte Migranten. Sie sind zu politisch Handelnden geworden. Das hängt mit der steigenden Bedeutung der Menschenrechte zusammen. Migranten, Flüchtlinge und Frauen sind oft jene Akteure, die die Menschenrechte aktivieren. Minorisierte Bürger funktionieren als informelle politische Akteure. Sie sind es, die die politische Agenda voranbringen.

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