Überwachungsfilm "Red Road": Freundlicher Voyeurismus

Überwachen und Rächen in Glasgow: In Andrea Arnolds Regiedebüt "Red Road" sind die Videokameras allgegenwärtig, und man weiß nicht, ob sie Teil der Bedrohung oder Teil der Lösung sind.

Big Brother is watching you - in Parks, Restaurants, in der U-Bahn, im Fahrstuhl. Bild: fugu films

Red Road, Glasgow. Wer diese Adresse vom Satellitenbilderdienst Google Maps suchen lässt, erhält einen Blick von sehr weit oben auf einen Komplex aus acht Hochhäusern. Wie Monolithen stehen sie in der Landschaft, die messerscharf geschnittenen Schatten der 30 Stockwerke hohen Türme ragen weit über ihr Grundstück hinaus. Weit und breit reicht nichts an diese Ausmaße heran, das nächste Wohngebiet besteht aus geschwungenen Reihen niedriger Häuser mit roten Ziegeldächern, wie sie überall in Großbritannien typisch sind. Vor 40 Jahren standen die Red Road Flats, damals Europas höchste Wohngebäude, für städtischen Wohnungsbau mit Ambitionen. Heute gilt die Siedlung als sozial verwahrlost, die Gebäude wurden privatisiert und sollen abgerissen werden. Kann also gut sein, dass Regisseurin Andrea Arnold in ihrem Spielfilmdebüt "Red Road" den aufgegebenen Riesen ein Denkmal gesetzt hat. Wenn auch kein schmeichelhaftes.

Jackie (Katie Dickie) ist Angestellte der kommunalen Überwachungszentrale. Rund um die Uhr beobachtet sie die Einwohner von Red Road, folgt ihren Wegen, studiert ihre Gewohnheiten. Für sie ist es einfach nur ihr Job, im matten Licht der Monitore das Leben der anderen zu studieren. Manche Gesichter sieht sie täglich, andere sind neu. Eines wird sie aus ihrer Routine reißen. Was genau Jackie an diesem Mann, Clyde (Tony Curran), fesselt, weshalb sie an ihm Rache üben will, lässt der Film den Zuschauer nur allmählich wissen. Schon bald wissen wir, dass er im Gefängnis war. Dass er in ihrer Vergangenheit eine Rolle spielte, ahnen wir. Mit den Kameras kann Jackie ihm zwar überall hin folgen, irgendwann jedoch muss sie ihren sicheren Beobachtungsposten aufgeben. Dann schleicht sie sich auf seine Party, lernt Freunde von ihm kennen. Kommt ihm näher.

Als "Red Road" vor zwei Jahren in Cannes Premiere hatte, glaubten einige nichtbritische Journalisten, die im Film gezeigte Videoüberwachung sei Teil eines futuristischen Szenarios, ein dunkler Kommentar auf einen drohenden Big-Brother-Staat. Weit gefehlt. Der Film zeigt den Normalzustand. Wie in jeder größeren Stadt auf der Insel sind auch in Glasgow hunderte Kameras auf Straßen und Plätzen, in Parks und in der U-Bahn, in Restaurants, Banken und Ladengeschäften zu finden. Gedreht wurde in einer echten Überwachungszentrale an einer nicht genutzen Arbeitsstation. Lediglich in einem Punkt wurde die Wirklichkeit abgeändert: Weil die Bilder aus den realen Überwachungskameras so gestochen scharf waren, dass man sie von den erzählenden Kinobildern nicht hätte unterscheiden können, mussten sie nachträglich aufgeraut werden, um ihnen das charakteristische körnige Aussehen zu geben.

"Red Road" zeigt die Überwacher als bemühte, zuweilen überarbeitete Angestellte, als ganz normale Menschen eben, deren Aufgabe es ist, im Schichtbetrieb die Augen offen zu halten. Sie verfolgen weder Drogendealer noch Terroristen, sondern achten darauf, dass die Leute aus ihrer Nachbarschaft sicher über die Straße kommen. Nicht einmal mehr die von der Regierung ursprüngliche, noch in den Neunzigern ausgegebene Propaganda, nach der die Kameras gut fürs Geschäft seien, scheint hier noch angebracht. Die Kameras verwalten den Alltag, und der sieht durch ihre Augen wenig glamourös aus. Vermüllte Plätze. Von Abgasen geschwärzte Betonbauten.

Jackie ist ein freundlicher Voyeur, und sie hat ihre Lieblinge: die mollige Putzfrau aus dem Großraumbüro, die sich ihren drögen Arbeitstag mit Musik versüßt. Der ältere Mann, der sich liebevoll um seinen kranken und unfassbar hässlichen Hund kümmert. Lauter kleine Alltagsdramen, die sich vor der Kameralinse abspielen. "City Eye", wie Jackies Arbeitgeber im Film heißt, ist nicht allsehend. Weil sie Clyde auf den Fersen bleiben will, entgeht Jackie eine Messerstecherei unter Jugendlichen. Das Opfer überlebt nur knapp. "Kann passieren", meint ein Kollege schulterzuckend. Verbrechensbekämpfer mit Leib und Seele hätte man sich anders vorgestellt.

Nicht nach außen ins Gesellschaftliche will der Film damit, sondern nach Innen, ins Seelenleben seiner Protagonistin. Die Arbeit am Monitor ist für Jackie eine Flucht vor dem Leben, die Putzfrau und der Hundebesitzer sind ihre Ersatzfamilie. Dass sie ihre eigenen Angehörigen verloren hat, erfahren wir erst durch eine ungewollte Begegnung mit ihrem Schwiegervater. Sie lebt isoliert, meidet Bekanntschaften. Mit einem verheirateten Arbeitskollegen hat sie eine freudlose Affäre. Für den schnellen Fick im Auto fahren sie raus aufs Land, auf eine Kuhweide: keine Kameras, die zusehen könnten.

In seiner Mischung aus Versatzstücken von Sozialrealismus und Technothriller ist "Red Road" eine Art gebremster Film noir für die Gegenwart. Ein Film über eine Frau, die Rache nehmen will, sich aber nicht sicher ist, wie. Katie Dickie spielt diese Figur, die weder als Opfer noch als Täterin gelten kann, als Gefangene ihres Verlangens nach Rache, als ebenso verzweifelte wie entschlossene Frau, die einen schützenden Ring von Traurigkeit um sich gelegt hat. Meist bleibt die Kamera (Robby Ryan) ganz nah an der Hauptfigur, aber je näher sie ihr rückt, desto entfernter wirkt Jackie. Anderen Leuten direkt ins Gesicht zu schauen, scheint sie verlernt zu haben: Nur in ihrem Beruf kann sie starren, ohne dass zurückgestarrt würde.

Bevor "Red Road" ein Film von Andrea Arnold wurde, war er ein Gedankenspiel der beiden Dogma-erprobten Dänen Lone Scherfig und Anders Thomas Jensen. Die Idee: Drei Nachwuchsregisseure sollen drei Filme über dieselben Figuren drehen. "Red Road" ist der erste Film der Reihe, in den anderen beiden werden Jackies Schwiegervater und ein mit Clyde befreundetes Pärchen die zentralen Rollen spielen. Die Konzeptherkunft kann "Red Road" nicht immer verleugnen. Der Versuch, den Spannungsbogen einzig auf der Frage aufzubauen, was genau dieser Mann nun eigentlich getan hat, wäre einem Kurzfilm angemessen, für einen abendfüllenden Spielfilm ist er kaum tragfähig. Dafür entschädigt Arnold mit einem atmosphärisch dicht gestrickten Film, in dem von jedem Bild eine latente Bedrohung auszugehen scheint. Nicht zu entscheiden, ob die überall anwesenden, kalten Augen der Überwachung ein Teil der Bedrohung oder ein Teil der Lösung sind, macht die Stärke dieses Films aus.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.