Lissaboner Filmfestival feiert José Luis Guerín: Sie ist nicht Sylvia

Heftig gefeiert: Das Lissaboner Filmfestival stellte den Regisseur José Luis Guerín vor, der als Held des spanischen Independent-Kinos gilt.

Still aus Bild: indielisboa

Bis zu 15 Filme kommen jede Woche neu in deutsche Kinos. Hunderte von DVDs werden im Monat veröffentlicht. Und doch wird, wer die Berichterstattung übers aktuelle Kino verfolgt, erstaunt feststellen, dass viele der auf Festivals am heftigsten gefeierten Filme weder auf die eine noch die andere Weise je in Deutschland landen. Was zu sperrig ist, hat im regulären Betrieb und sogar als DVD oft keine Chance, die Kosten wieder einzuspielen. Das Problem gibt es in anderen Ländern - selbst in Frankreich - längst auch.

Nicht zuletzt führt das dazu, dass Filmfestivals dabei sind, ihre Funktion zu verändern. Weniger die A-Festivals in Cannes, Berlin und Venedig, die alle so etwas wie ein je spezifisch akzentuiertes Gesamtbild des Filmschaffens zu präsentieren bemüht sind. Daneben aber sind in den letzten Jahren kleinere Festivals immer wichtiger geworden. Diesen Festivals - etwa in Wien, in Toronto, in New York - geht es um die Gewinnung von Essenzen, darum, dem Publikum die wichtigsten unter jenen Filmen vorzuführen, die womöglich den Weg in die Kinos außerhalb ihres Heimatmarkts nie schaffen. Diese Festivals wollen nicht allen etwas bieten, sondern einem interessierten Publikum das Beste.

Seit fünf Jahren gibt es "Indielisboa" in Lissabon, das jüngste unter diesen Essenzfestivals. Es ist geradezu aufregend kenntnisreich, klug und ambitioniert kuratiert. So wird, was im Weltkino zu Recht für Aufsehen sorgt, hier vorgezeigt und sogleich einer historisch-kritischen Bearbeitung zugeführt. Im letzten Jahr war die "Berliner Schule" dran, in diesem der junge rumänische Film. Ein weiteres Augenmerk gilt je zwei sogenannten Independent Heroes. Das waren diesmal Johnnie To, der derzeit größte Meister aus Hongkong, und der hierzulande noch wenig bekannte, 1960 geborene katalanische Regisseur José Luis Guerín.

Mit "En la ciudad de Sylvia" ("In Sylvias Stadt") war Guerín im letzten Jahr erstmals im Wettbewerb eines der großen Festivals, nämlich in Venedig, vertreten. Zu den Ironien solcher Geschichten gehört, dass dies gewiss nicht Gueríns stärkster Film ist. Ein bisschen zu gefällig ist diese Meditation über männliche Blicke auf schöne Frauen, die an Tischen in Straßburg sitzen, die durch Gassen in Straßburg gehen und die der junge Held dieses Films erst beobachtet, um dann eine von ihnen hartnäckig zu verfolgen. Er hält sie für Sylvia, eine Frau, die er nach einer Begegnung aus den Augen verlor. Aber sie ist nicht Sylvia und kann es nicht sein.

Allerdings ist auch in "En la ciudad de Sylvia" hinter der arg schönen Oberfläche die Einzigartigkeit von Gueríns Kino nicht zu übersehen - und vor allem nicht zu überhören. Er ist zuerst und zuletzt ein Meister der Montage, oft von Bildern und Bildtypen gegeneinander, noch öfter aber von Bild und Ton. Im Podiumsgespräch während des Festivals machte er klar, dass ein Film für ihn erst während der sogenannten Postproduktion wirklich entsteht, in jener Phase also, in der die Bilder und Klänge in Bezug zueinander gesetzt werden. Als prosaische Tätigkeit heißt das einfach: abmischen. Als Kunst, wie sie Guerín und seine wichtigste Mitarbeiterin, die Schnittmeisterin Núria Esquerra, beherrschen, ist es der Entwurf von feinstens aufeinander abgestimmten, einander kommentierenden, gegeneinander pointierten Bild-Klang-Landschaften aus Menschen, die vorüberradeln, Sprachen, die vorüberwehen, und Frauen, die vorübergehen.

In stupender Weise gelungene Variationen dieser Methode sind Gueríns zuvor entstandene Filme "Tren de sombras" ("Zug der Schatten", 1997) und "En construcción" ("In Bau", 2001). Der Erstere ist eine experimentelle Annäherung an einen - von Guerín gefaketen - stummen Amateurfilm aus den späten 20er-Jahren und eine Recherche zum Schicksal der in ihm zu sehenden Personen. Guerín macht daraus eine atemberaubende Mixtur aus Mockumentary, Krimi und Horrorfilm, das Ganze als Reflexion über bewegte Bilder, Erinnerung und die unscharfe Grenze zwischen Fantasie und Dokumentation. Zum Schein rein dokumentarisch verfolgt dagegen "En construcción" über zwei Jahre hinweg am Bau eines großen Apartmenthauses die Gentrifizierung eines Arbeiterviertels in Barcelona. Wie hier in der Verschränkung von Bau- und Stadtgeräuschen und in spielfilmartigen Dokumentarszenen die Zeit, die vergeht, aufgehoben wird: Darin steckt der ganze Guerín, den zu entdecken allein schon die Reise nach Lissabon lohnte. EKKEHARD KNÖRER

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.