Russischer Oppositioneller: Der Langstreckensurfer

Einst Zögling von Boris Jelzin, heute mehrmals im Jahr im Gefängnis: Boris Nemzow ist einer der wenigen Russen, die das System Putin offen kritisieren.

Ein Freidenker, der an den Rechtsstaat glaubt: Boris Nemzow. Bild: dpa

MOSKAU taz | Trainingsanzug, dicken Pulli, Mineralwasser, drei Bücher und zwei Packungen Zigaretten packte er in die Reisetasche. "Ich hab gedacht, im Knast unter Männern muss man einfach rauchen", erzählt Boris Nemzow. Seit Jahren zählt der 50-jährige Politiker zu den schärfsten Gegnern des Systems Putin. Der Mitbegründer der Oppositionsbewegung Solidarnost war im August auf einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen und von einem Moskauer Gericht zu einer dreitägigen Karzerhaft verurteilt worden.

Widerstand gegen die Staatsgewalt lautete die Anklage. "Im Gefängnis verschafft dir ein politischer Paragraf Achtung", sagt Nemzow. Schon unter Stalin sei das so gewesen, schmunzelt er. Das mache ihn aber noch nicht zum Helden, mulmig sei ihm schon zumute gewesen. Dreimal bereits setzte die Miliz den groß gewachsenen Mann mit den schwarzen Locken in diesem Jahr fest. Moskaus Ordnungshüter greifen in letzter Zeit gezielt prominentere Demonstranten aus der Menge heraus. "Die politische Kaste ist sich ihrer Sache nicht mehr so sicher."

Der Wirtschaftsreformer

Seit anderthalb Jahren geht Solidarnost am 31. eines Monats auf die Straße, um an das in Artikel 31 der Verfassung verbriefte Recht auf Demonstrationsfreiheit zu erinnern. Und jedes Mal treibt die Polizei das kleine, aber wachsende Häuflein auseinander. Russlands elektronische Medien berichten kaum darüber. Daher ist der unermüdliche Agitator auch nicht mehr so bekannt wie noch in den 90er Jahren. Eigentlich ist er ein Dinosaurier im Politikgeschäft, der seit dem Niedergang der Sowjetunion an vorderster Stelle mitmischte. Russlands erster Präsident, Boris Jelzin, hatte an dem Jungpolitiker einen Narren gefressen. Mit 31 Jahren übertrug der Kremlchef dem Abgeordneten des Obersten Sowjets das Amt des Gouverneurs im hochindustrialisierten Verwaltungsgebiet Nischni Nowgorod. Nemzow hatte seine Jugend dort verbracht.

Über Nacht avancierte der smarte Junge aus der Provinz zum Shooting Star. Ehemalige sozialistische Musterbetriebe der Auto- und Rüstungsindustrie und nukleare Forschungseinrichtungen standen nach dem Systembruch vor dem Bankrott. Nemzow verwandelte Nischni in ein Experimentierfeld für angewandte Wirtschaftsreformen. Wer als Reformer etwas auf sich hielt, nutzte die Experimentierfreude des jungen Gouverneurs und zog nach Nischni. Längst nicht alles gelang. "Als Gouverneur war ich eigentlich noch ein Kind", sagt Nemzow heute mit einer Prise Selbstkritik.

Hunderte Arbeiter, die monatelang keinen Lohn erhalten hatten, belagerten damals sein Büro. Dennoch wurde der Gouverneur 1995 in freien Wahlen wiedergewählt. Der forsche Politiker lebte mit Frau und Tochter in einer bescheidenen Wohnung. Er war beliebt und sorgte mit ungewöhnlichen Methoden für Ordnung, aber immer auch wieder für Unterhaltung. Nahm er zum Beispiel den Bau einer Straße ab, ließ er auf der Haube eines Wagens ein Wodkaglas befestigen. War dies nach der Probefahrt leer, blieb das nicht ohne Folgen.

Etwas Lausbubenhaftes, Draufgängerisches strahlt er noch immer aus. Dabei war Boris Jefimowitsch ein Musterschüler, der Schule und Universität mit Auszeichnung absolvierte. Nach dem Mathematik- und Physikstudium promovierte er in Plasmaphysik und arbeitete an der Entwicklung des sowjetischen Gegenprogramms zur lasergestützten US-Vision des "Kriegs der Sterne" mit. "Geld war damals schon knapp, wir fanden eine grobe, typisch sowjetische Antwort", sagt er lachend. "Im All sollte eine Nuklearexplosion die Laser durch magnetischen Staub irreleiten und die Sensoren lahmlegen. Eine Stunde hätte gereicht, um eine Rakete auf New York abzuschießen." Als das ruchbar wurde, soll US-Präsident Ronald Reagan die Star-War-Vision kleinlaut ad acta gelegt haben.

Die Mutter war schuld, dass Nemzow die Wissenschaft an den Nagel hängte. Er würde seine Talente verschwenden, meinte sie. In einem Zeitungsartikel hatte er sich während der Perestroika gegen den Bau eines AKWs in Nischni gewandt. "Als Physiker kann ich nicht gegen Atomkraft sein", erklärt er. Doch sollte das AKW in der Stadt zur Wärmeversorgung eingesetzt werden. "Bei dem verrotteten Leitungssystem wäre das sehr gefährlich gewesen." Die Gegner machten ihn daraufhin zum Kandidaten für den Obersten Sowjet, das Parlament in Moskau.

Nemzow ist theoretischer Physiker, kein Gesellschaftstheoretiker, eher ein Freidenker, der fest daran glaubt, dass Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte auch in Russland Zukunft haben. Putins Konterrevolution stehe für Korruption, Diebstahl, polizeiliche Willkür und Wahlfälschung. "Nicht jeder in Russland ist käuflich. Die herrschende Kaste begreift das nicht, weil Putin selbst Gerhard Schröder einkaufen konnte." Nachdenklich setzt Nemzow nach, "sie verachten das Volk und reden ihm ein, es könne sich nicht selbst regieren".

Im Jahr 1997 holte Präsident Jelzin den Gouverneur als Vizepremier nach Moskau. Der Kremlchef brauchte Kräfte, um den ins Stocken geratenen Reformprozess wieder anzuschmeißen. Nemzow ging nur widerwillig nach Moskau. Aus Loyalität zu Jelzin, der den unkonventionellen Publikumsliebling damals noch zu seinem Nachfolger küren wollte. "Er sah in mir einen Sohn." Selbst nach 1995. Jelzins Generäle führten Krieg in Tschetschenien. Der Gouverneur sammelte in Nischni eine Million Unterschriften gegen den Kaukasusfeldzug und schickte sie in den Kreml. Jelzin sei erbost gewesen. "Wochen später nahm er mich trotzdem mit nach Tschetschenien. Er signalisierte Friedensbereitschaft und gestand seinen Fehler ein." Unter Putin sei das heutzutage undenkbar.

Eine Portion Besessenheit

Mit Putin hat Nemzow nicht nur eine politische Rechnung zu begleichen. Der Jelzin-Nachfolger im Kreml versaute ihm auch die Karriere. Viele Mitstreiter aus den 90er Jahren arrangierten sich mit der neuen Macht. Nemzow mied die Nähe zum Kreml. "Ehemalige Kollegen wundern sich, weil ich als Einziger aus der alten Reformerriege offen gegen das Regime opponiere." Bis 2007 bekleidete er noch den Posten eines der Vorsitzenden der früheren Reformerpartei Union der Rechtskräfte. Diese zerbrach in der Putin-Ära an der widersprüchlichen Haltung zum herrschenden System.

Seither ist Nemzow einer der Köpfe der außerparlamentarischen, "nicht systemkonformen" Opposition - eine Randfigur. "Putin richtet unser Land zugrunde. Da kann ich nicht guten Gewissens in diesem Zirkel Karriere machen." Nach der Haft mahnten auch Geschäftsfreunde, das Rebellieren endlich aufzugeben, den Kreml nicht weiter zu reizen. "Die Machthaber haben Bodenhaftung verloren, sie ahnen aber, dass das geschönte Bild der Medien Schwindel ist." Das mache sie unberechenbar, meint Nemzow.

Er ruht in sich, wenn er erzählt, es rumort aber in ihm. Von der Anti-Putin-Mission scheint er besessen. Seit September schmiedet er an einer neuen Koalition mit Wladimir Ryschkow, Michail Kasjanow und Wladimir Milow, gleichgesinnten Oppositionellen, die kleine Grüppchen ohne Schlagkraft hinter sich sammeln. Die Koalition will sich für die Duma- und Präsidentschaftswahlen 2011/12 als Partei registrieren zu lassen. Ähnliche Versuche scheiterten meist an der Heterogenität der Opposition, dem Geltungsbedürfnis der Frontmänner und nicht zuletzt an den Finten des Kremls. Nemzow gibt jedoch nicht auf, als Verbündeter ist er gut gelitten, weil er um seine Person keinen Kult betreibt. Und wo sich regionaler Protest ankündigt, ist er zur Stelle. Ob in Kaliningrad, Wladiwostok oder Irkutsk.

Meist hat er noch Broschüren über "Zehn Jahre Putin - Ergebnisse" im Gepäck, wenn sie vorher nicht beschlagnahmt wurden. Die Putin-Bilanz fällt mager aus und legt offen, wie viele Fragen der nationale "Lider" zur eigenen Geschäftspraxis beantworten müsste, wäre Russland ein Rechtsstaat. Dem korrupten Treiben des Moskauer Exbürgermeisters Luschkow widmete Nemzow auch zwei Untersuchungen. Die gelenkten Medien griffen auf diese Enthüllungsschriften zurück, als Präsident Dmitri Medwedjew den Bürgermeister letzte Woche zu Fall brachte. "Ohne die Urheberschaft zu nennen", lacht Nemzow. Der innere Verfallsprozess des Systems hat bereits begonnen. Nemzow formuliert es drastischer: "Das System Putin ist ein riesiger, mit einer hauchdünnen Schicht Blattgold überzogener Haufen Scheiße." Spätestens 2025 sei es vorüber", sagt er mit einem spitzbübischen Lächeln.

Als leidenschaftlicher Marathonsurfer bereitet er sich auf lange Distanzen vor und gewinnt der Anstrengung sogar etwas ab. Der "ewig strahlende Sieger", wie er sich in der Autobiografie "Der Provinzler" noch in den 90er Jahren präsentierte, ist er indes nicht mehr. "Ich bin aber der moralische Sieger", sagt er trotzig. Auf keinen Fall möchte er mit Vertretern der herrschenden Nomenklatura tauschen: "Sie haben Ringe unter den Augen, weil sie aus Angst nicht mehr ruhig schlafen können. Ich schlafe gut." Auf Wunsch des Wachpersonals ließ er nach dem Arrest ein paar Broschüren "Putin - Ergebnisse" in der Zelle zurück, handsigniert.

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